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Das lebendige Theorem (German Edition)

Das lebendige Theorem (German Edition)

Titel: Das lebendige Theorem (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cédric Villani
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ich wirklich die Wahl hatte: Das Buch selbst hat entschieden, es konnte auch nicht anders sein.
    Mit Dingen, die ich mag, habe ich mich manchmal länger aufgehalten … aber das ist nicht der Rede wert. [3]
    Aber jetzt bleiben mir nur noch achtzehn Monate mit reduzierter Lehrverpflichtung, dabei habe ich noch gar nicht mit dem angefangen, was mein Großes Projekt zur Boltzmann-Gleichung werden sollte. Also kommt diese Einladung nach Princeton genau zum richtigen Zeitpunkt. Kein Buch, keine Verwaltungstätigkeit, kein Kurs, ich werde fortlaufend Mathematik treiben können! Alles, was man von mir verlangt, ist die gelegentliche Teilnahme an Diskussionen und Seminaren zur geometrischen Analyse – das diesjährige Schwerpunktthema am Institute for Advanced Study.
    Am Institut waren nicht alle froh darüber. Von Januar 2009 an hätten mich alle gerne als Institutsleiter gesehen, und das ist genau der Zeitpunkt, den ich gewählt habe, um einen Rückzieher zu machen. Dumm gelaufen, es gibt Zeiten, wo man egoistisch sein muss. Schließlich habe ich jahrelang für den Aufbau des Teams an der ENS von Lyon gearbeitet, und wenn dieser Exkurs nach Princeton einmal vorbei ist, werde ich immer noch eine Menge Verwaltungsaufgaben für das Allgemeininteresse erfüllen.
    Und dann ist da ja noch die Medaille!
    Die Fields-Medaille, die die Anwärter kaum zu nennen wagen, die FM. Die höchste Auszeichnung für einen Mathematiker, der in der Blüte seines Lebens steht. Sie wird alle vier Jahre auf dem Internationalen Mathematikerkongress an zwei, drei oder vier Mathematiker verliehen, die jünger als 40 Jahre sind.
    Natürlich gibt es in der Mathematik schicke Preise! Der Abel-Preis, der Wolf-Preis, der Kyoto-Preis sind zweifellos noch schwerer zu bekommen als die Fields-Medaille. Aber sie haben nicht denselben Widerhall, dasselbe Ansehen. Und sie kommen am Ende der Laufbahn und spielen nicht dieselbe Rolle als Sprungbrett und Ermutigung. Die FM hat eine viel größere Ausstrahlung.
    Man denkt nicht an sie, und man arbeitet nicht für sie. Das würde Unglück bringen.
    Man nennt sie nicht einmal, und ich vermeide es, ihren Namen auszusprechen. Ich schreibe FM, und der Empfänger versteht.
    Letztes Jahr habe ich den Preis der Europäischen Mathematischen Gesellschaft ergattert, der alle vier Jahre an zehn junge europäische Forscher verliehen wird. In den Augen vieler Kollegen war das ein Zeichen dafür, dass ich immer noch im Rennen um die FM lag. Zu meinen Stärken zählt mein sehr breites Spektrum, vor allem für meine Generation: Analysis, Geometrie, Physik, partielle Differentialgleichungen … Außerdem ist das junge australische Wunderkind Terry Tao kein Konkurrent mehr: Er hat die Medaille schon auf dem letzten Internationalen Kongress erhalten mit kaum 31 Jahren.
    Aber meine Leistungen sind nicht tadellos. Das Theorem der bedingten Konvergenz für die Boltzmann-Gleichung, auf das ich so stolz bin, setzt die Regularität voraus; damit es vollkommen wäre, hätte ich die beweisen müssen. Die Theorie der Ricci-Schranken im schwachen Sinne fängt zwar ganz richtig an, aber unser allgemeines Kriterium der Krümmungs-Dimensions-Ungleichung ist nicht unbestritten. Und die große mathematische Bandbreite, die ich aufweise, hat zwar Vorteile, aber auch Mängel: Wahrscheinlich beherrscht kein Experte sämtliche Aspekte meiner Arbeit. Um jedenfalls eine Chance zu haben, und auch für mein persönliches Gleichgewicht, muss ich jetzt ein schwieriges Theorem über ein bedeutendes physikalisches Problem beweisen.
    Die Altersgrenze von 40 Jahren, was für ein Druck! Ich bin zwar erst 35 … Aber die Regel wurde beim letzten Internationalen Kongress 2006 in Madrid verschärft. In Zukunft muss man am 1. Januar des Kongressjahres unter 40 sein. In dem Moment, als die neue Regel öffentlich verkündet wurde, habe ich verstanden, was das für mich bedeutete: 2014 wäre ich 3 Monate zu alt; die FM kommt also 2010 oder nie.
    Seitdem ist kein Tag vergangen, ohne dass die Medaille mir im Gehirn herumspukt. Und jedes Mal dränge ich sie wieder zurück. Kein politisches Manöver, man konkurriert nicht ausdrücklich um die Fields-Medaille, und die Prüfungskommission ist jedenfalls geheim. Ich spreche mit niemandem darüber. Um meine Chancen zu vergrößern, die Medaille zu ergattern, darf ich nicht daran denken. Nicht an die FM denken, einzig und allein an ein mathematisches Problem denken, das mich mit Leib und Seele beschäftigt. Und hier am IAS werde

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