Das lebendige Theorem (German Edition)
eingeschränkt, will man die Integrierbarkeit nach der Zeit erhalten, was verträglich ist mit dem Grenzwert ½ in L^2. Eine andere Neuheit in diesen Rechnungen hier scheint darin zu bestehen, dass es keinen Grenzwert 1 … mehr gibt, wenn der Zuwachs zu (t-s) proportional ist. Wir müssen auch sehen, ob dieser zu (t-s) proportionale Zuwachs für die nichtlineare Regularitätstheorie nützlich sein kann (deine Ausgangsfrage) …
Und was gibt es bei dir Neues?
Liebe Grüße,
Clement
Kapitel 11
Princeton, 15. Januar 2009
Wie jeden Morgen gehe ich in den Gemeinschaftsraum, um Tee zu holen. Hier ist es nicht die Gutmütigkeit Einsteins, sondern vielmehr die scharfen Züge André Weils, die in Gestalt einer Bronzebüste dargestellt sind.
Der Gemeinschaftsraum hat nichts Überschwängliches. Es gibt dort eine große schwarze Tafel, das versteht sich von selbst, etwas für die Zubereitung von Tee und Schachbretter sowie haufenweise Schachzeitschriften.
Eine davon zieht meinen Blick auf sich, man feiert dort Bobby Fischer, den größten Spieler aller Zeiten, der vor etwa einem Jahr verschwunden ist. Nachdem er mit voller Wucht von einer Paranoia erwischt wurde, hat er sein Leben als wirrer Misanthrop beendet. Aber jenseits des Wahnsinns bleiben uns außergewöhnliche Schachpartien eines Spielers, dem niemand ebenbürtig war.
In der Mathematik gab es mehrere Leute mit demselben tragischen Schicksal.
Paul Erdös, der umherirrende Mathematiker, Autor von 1500 Fachartikeln (Weltrekord), einer der Begründer der probabilistischen Zahlentheorie, der sich in seinen abgetragenen Kleidern in der Welt herumtrieb, ohne Zuhause, ohne Familie, ohne Anstellung, nur mit seiner Tasche, seinem Koffer, seinem Notizbuch und seinem Genie.
Grigorij Perelman, der sieben einsame Jahre damit verbrachte, im Verborgenen die Rätsel der berühmten Poincaré’schen Vermutung zu durchdringen und die Welt der Mathematik verblüffte, als er ihr eine unerwartete Lösung anbot, die man für unmöglich hielt. Möglicherweise hat er, um die Makellosigkeit dieser Lösung nicht zu verderben, auf die Million Dollar verzichtet, die von einem amerikanischen Mäzen ausgeschrieben war, und seine Stelle aufgegeben.
Alexander Grothendieck, eine lebende Legende, der die Mathematik tiefgreifend revolutionierte, hat eine der abstraktesten Schulen des Denkens geschaffen, die die Menschheit je entwickelt hat. Er gab seine Stelle am Collège de France auf und zog sich in ein kleines Dorf in den Pyrenäen zurück, ein Verführer, der sich wieder in einen Einsiedler zurückverwandelt hatte, ein Opfer der Verrücktheit und der Sucht zu schreiben.
Kurt Gödel, der größte Logiker aller Zeiten, der zur allgemeinen Überraschung bewies, dass keine mathematische Theorie vollständig ist und dass es immer Aussagen gibt, die weder wahr noch falsch sind. Als sich sein Leben dem Ende zuneigte, wurde er von einem Verfolgungswahn zerfressen und starb schließlich an Hunger aus Angst, dass man ihn vergiften könnte.
Und John Nash, mein Held in der Mathematik, der in zehn Jahren mit drei Theoremen die Analysis und Geometrie revolutionierte, bevor auch er in Paranoia versank.
Man sagt zwar, dass die Spanne zwischen Genie und Wahnsinn klein sei. Aber das eine wie der andere sind schlecht definierte Begriffe. Und außerdem sieht man bei Grothendieck, Gödel oder bei Nash, dass die Phasen des Wahnsinns nicht den Phasen mathematischer Produktivität entsprechen.
Das Angeborene und das Erworbene, eine weitere klassische Debatte. Fischer, Grothendieck, Erdös, Perelman waren alle jüdischer Herkunft. Von ihnen waren Fischer und Erdös zudem ungarischer Herkunft. Wer auch immer im mathematischen Umfeld tätig war, weiß, wie zahlreich die jüdischen Talente in diesem Bereich sind, und kann nur über die außerordentliche ungarische Erfolgsbilanz staunen. Wie es ein Witz, der in bestimmten Kreisen amerikanischer Wissenschaftler in den 1940er Jahren beliebt war, zum Ausdruck brachte: »Die Marsbewohner existieren: Sie haben eine übermenschliche Intelligenz, sprechen eine unverständliche Sprache und geben vor, aus einem Ort namens Ungarn zu kommen.«
Dennoch ist Nash Amerikaner reiner Abstammung ohne irgendetwas in seiner Herkunft, das sein außergewöhnliches Schicksal hätte erahnen lassen. Jedenfalls hängt ein Schicksal doch von so vielen Dingen ab! Die Mischung der Gene, die Mischung der Ideen, die Mischung von Erfahrungen und Begegnungen, all das geht in die wundersame und
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