Das lebendige Theorem (German Edition)
in unseren Gesprächen vor …
– Ich spüre, dass Konvergenzprobleme auftreten werden, fährt Clément fort. Ich fürchte sogar um das Newton-Schema und die Fehlerterme der Linearisierung. Und dann gibt es noch eine eher technische Sache, nämlich dass man in allen Fällen die Streuung des vorangehenden Schritts haben wird, die nicht gering ist!
Ich bin beleidigt, weil meine brillante Idee ihn nicht überzeugt hat.
– Gut, wir werden sehen, wenn es nicht funktioniert, ist das auch nicht schlimm, dann bleiben wir eben beim gegenwärtigen Schema.
– Jedenfalls ist das abgedreht, wir haben schon mehr als hundert Seiten Beweise geschrieben und sind immer noch nicht fertig!! Glaubst du wirklich, dass er uns gelingen wird?
– Geduld, Geduld, wir haben es fast geschafft …
Unten ist die Pause beendet, ich begebe mich eilig hinunter, um von der Fortsetzung der Tagung zu profitieren.
*
Die partiellen Differentialgleichungen (PDG) sind Beziehungen zwischen der Variationsrate bestimmter Größen in Abhängigkeit von verschiedenen Parametern. Es handelt sich um einen der dynamischsten und vielgestaltigsten Bereiche der mathematischen Wissenschaften, der jedem Versuch der Vereinheitlichung trotzt. Die PDG trifft man bei allen Phänomenen der Physik kontinuierlicher Medien an. Sie betreffen alle Aggregatzustände: Gase, Flüssigkeiten, Festkörper, Plasmen, ebenso wie alle physikalischen Theorien: klassische, relativistische, quantentheoretische usw.
Aber die partiellen Differentialgleichungen stehen auch hinter zahlreichen geometrischen Problemen; man spricht dann von geometrischen PDG. Sie gestatten die Deformation geometrischer Objekte nach ganz präzisen Gesetzen. In diesem Bereich wendet man eine analytische Denkweise auf ein Problem der Geometrie an: eine Vermischung von Fachgebieten, die im Laufe des 20. Jahrhunderts immer häufiger geworden ist.
Die Tagung vom Februar 2009 in Princeton war drei Hauptthemen gewidmet: den konformen Geometrien (Änderungen der Geometrien, die die Entfernungen verzerren, aber die Winkel erhalten); dem optimalen Transport (wie man Masse aus einer vorgeschriebenen Anfangskonstellation in eine ebenfalls vorgeschriebene Endkonstellation transportiert und dabei so wenig wie möglich Energie verbraucht); und den Problemen der freien Ränder (wo man die Form der Grenze sucht, die zwei Materiezustände oder zwei Materialien voneinander trennt). Drei Bereiche, die ebenso Geometrie und Analysis wie die Physik betreffen.
In den 50er Jahren hatte John Nash seinerzeit die Gleichgewichte zwischen Geometrie und Analysis erschüttert, als er entdeckte, dass das abstrakte geometrische Problem der isometrischen Einbettung sich durch Techniken der feinen Abschälung partieller Differentialgleichungen lösen ließ.
Vor einigen Jahren hat Grigorij Perelman eine geometrische PDG namens Ricci-Fluss verwendet, die von Richard Hamilton erfunden wurde, um die Poincaré’sche Vermutung zu lösen. Diese analytische Lösung eines typischen Problems der Geometrie hat erneut die Gleichgewichte zwischen den Disziplinen durcheinandergebracht und einen beispiellosen Aufschwung zugunsten geometrischer PDGs hervorgebracht. Perelmans Bombe hallt in einem Abstand von fünfzig Jahren wie ein Echo von Nashs Kracher wider.
Kapitel 19
Princeton, 1. März 2009
Ungläubig lese ich die Nachricht, die gerade auf dem Bildschirm meines Computers erschienen ist, wieder und wieder.
Clément hat einen neuen Plan? Er will keine Regularisierung mehr machen? Er will den Verlust der Regularität, der in der zeitlichen Diskrepanz enthalten ist, nicht mehr wettmachen?
Woher nimmt er das? Seit mehreren Monaten schwebt uns vor, ein Newton-Schema mit Regularisierung zum Laufen zu bringen wie bei Nash–Moser, und jetzt sagt mir Clément, dass wir ein Newton-Schema ohne Regularisierung machen sollten!? Und er sagt, dass wir die Abschätzungen entlang der Trajektorien bei fester Anfangs- und Endzeit, mit zwei verschiedenen Zeitpunkten , durchführen müssen??
Warum eigentlich nicht. Aber dennoch! Cédric, du musst aufpassen, die jungen Leute sind fürchterlich, du bist dabei, überholt zu werden!
Nun ja, das ist unvermeidlich, die jungen Leute gewinnen am Ende immer … aber … jetzt schon?
Verschieben wir das Gejammer auf später, im Augenblick muss ich versuchen zu verstehen, was er meint. Worum geht es denn eigentlich bei dieser Geschichte mit den Abschätzungen, warum muss man den Anfangszeitpunkt in Erinnerung
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