Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
Vom Netzwerk:
Geschichte von den Steinen, die wir Internatszöglinge hundert Mal gehört hatten von den Präfekten. Wie die Bessaraber auf ihre Karren das wertvollste Gut geladen hatten, über das sie verfügten: große runde schwere Steine, die in der moldawischen Steppe kaum aufzutreiben waren, die sie aber unbedingt brauchten, um die Deckel der Holzfässer zu beschweren, in denen ihr Sauerkraut reifte. Wie ihre elenden Pferdchen die Steine quer durch den halben Kontinent geschleppt hatten. Wie die Bessaraber blöd schauten, als sie endlich angekommen waren im Zisterzienserstift im schönen Oberösterreich. Da haben die aber geschaut, krähte Bodinger. Lauter Steine! Da blühten sie richtiggehend heraus aus dem Frühjahrsboden, am meisten auf den minderen Lagen im Rugiland, nördlich der Donau, sobald der Frost wich und die Eislinsen aufgingen. Überall Stein um Stein, in solchen Massen, dass die Bauern gar nicht wussten, wohin damit, wenn sie sie ausackerten aus den Feldern!
    Er saß in seinem Ärztelederdrehsessel und klatschte sich vor Vergnügen auf die Oberschenkel. Eine schöne Geschichte, sagte er, zeigt sehr eindrücklich die Vergeblichkeit des menschlichen Klammerns und Krallens an Dinge, die letzten Endes immer nutzlos sind. Du musst nur von Bessarabien in den Bezirk Linz-Land auswandern, um zu bemerken, wie alles Wertvolle seinen Wert verliert. Steine!, kreischte er noch einmal, dann rückte er die Papiere vor sich zurecht und setzte eine amtliche Miene auf.
    Es sieht gut aus, sagte er. Dein Nüchternblutzucker liegt zwar ständig über dem Grenzwert. Aber nicht allzu sehr. Nur nach dem Frühstück bist du über 146 gekommen. Der HbA1c-Wert stimmt mich ebenfalls sehr zuversichtlich. Sieht aus, als hätte dein Stoffwechsel erst vor Kurzem begonnen, aus dem Ruder zu laufen. Ich denke, dass eine kleine Umstellung der Lebensgewohnheiten genügt.
    Ich schwieg. Er fragte, ob ich verstanden hätte. Ich nickte. Kein Zucker die nächsten drei Monate. Absolut tabu. Trinkst du Bier? Ich nickte. Musst du streichen. Den Zucker, den dein Hirn braucht, musst du dir woanders holen. Das menschliche Gehirn erhält seine Energie ausschließlich von Zucker. Darum ist der Liquor süß. Er sah mich fragend an, als ich keine Anstalten zu einer Zwischenfrage machte, die er allem Anschein nach erwartet hatte, fuhr er fort. Die Flüssigkeit, in die das Hirn eingebettet ist, ist äußerst zuckerhaltig. Vor Jahren habe ich einen Patienten gehabt, bei dem ist es nach einem Schädelbasisbruch zu Liquoraustritt gekommen, über eine Fistel, die quer über den Brauenbogen führte und neben einem seiner Lider aufbrach. Der ist in einen schweren Panikzustand geraten, als dauernd dieses Zuckerwasser aus seinem Schädel austrat.
    Noch immer saß ich schweigend da und hörte zu. Also, sagte er, was ich sagen will: Ohne Zucker kann dein Hirn nicht arbeiten. Kannst du der Welt keine unsterblichen Meisterwerke mehr schenken, feixte er. Du musst dir den Zucker holen über Kohlehydrate. Stell um auf kohlehydratreiche Nahrung und Gemüse. Und Obst, aber nicht zu viel, wegen dem Fruchtzucker. Wegen der Details werden dir meine Damen Broschüren mitgeben.
    Ich nickte, wir schwiegen. Der alte Gattringer ist gestorben, sagte er schließlich.
    Der philosophus nazissimus. Gattringer der Nazi. Unser Professor für Philosophie und Religion. Was wir gestritten hatten mit ihm. Gattringer war der unerbitterlichste Gegner des Schülerausschusses gewesen, seine flammenden Tiraden gegen die Einführung eines Raucherzimmers hatte er auch dann nicht beendet, als die Angelegenheit offiziell vom Direktorat abgesegnet worden war. Sartre war sein Lieblingsfeind, gegen Sartre hatte er gewütet mit großer Wortgewalt. Und hatte uns dazu gebracht, Sartre zu lesen, so wie sein Wettern gegen DiaMat, den dialektischen Materialismus, dazu geführt hatte, dass die Hälfte der Maturanten sich im ersten Hochschuljahr an die Revolutionären Marxisten oder andere trotzkistische Splittergruppen anschloss.
    Gattringer der Nazi, sagte ich. Er war uns haushoch überlegen gewesen bei jeder Diskussion, zu welchem Thema auch immer. War einfach belesener als die Fünfzehnjährigen oder Achtzehnjährigen, die nicht viel mehr über die Welt und die Menschen und die sie zusammenhaltenden Mechanismen wussten, als sie in schlampig hektografierten Untergrundmagazinen zweifelhafter Urheberschaft gefunden hatten. Wenn wir hoffnungslos ins Hintertreffen gerieten bei Streitgesprächen in den Religionsstunden,

Weitere Kostenlose Bücher