Das leere Land
Religionsstunden, den schwarz-weiß gewandeten Zisterzienser Gattringer, der im Kerker gesessen war, den die Nazis eingerichtet hatten in jenem burgartigen Bau mitten in Linz, den später die Kolpingbewegung zu einem Jugendwohnheim und Haus der Begegnung umfunktionierte.
Wieso hat er uns Deppen das nie gesagt?, fragte ich.
Es muss nicht leicht gewesen sein für die, sagte Bodinger. Er erzählte, dass er dem jetzigen Abt des Klosters ein Kondolenzschreiben gesandt habe zum Ableben Gattringers, worauf ihn der Abt angerufen und sich peinlich überschwänglich bedankt habe, da seine, Bodingers, Reaktion die einzige aus dem Kreis ehemaliger Schüler des Verstorbenen gewesen sei. Dieser Abt ist kurz nach dem Krieg eingetreten in den Orden als Achtzehnjähriger, sagte Bodinger, und er hat über Jahre nicht verstanden, was in diesem Konvent nicht stimmt. Eine seltsam gespannte Stimmung habe die klösterliche Beschaulichkeit stark konterkariert, das waren seine Worte, sagte Bodinger. Erst in den fünfziger Jahren habe er es begriffen. Die Hälfte der Brüder war im Widerstand gewesen, in Hitlers Lagern und Gefängnissen gesessen. Die andere Hälfte war gemeinsam mit den Dorfbewohnern draußen an der Nibelungenbundesstraße gestanden und hatte Heil, Heil gebrüllt. Muss man sich vorstellen, sagte Bodinger. Da leben zwei Dutzend Männer auf engstem Raum, enger als Ehepaare, Tag und Nacht, Jahr um Jahr, von denen war die Hälfte Nazis und die andere Hälfte Naziopfer.
Es ist auf nichts Verlass, sagte ich, Bodinger fragte, was ich meine. Ich sagte nichts. Sollte ich ihm sagen, dass ich mich auf eine unangenehme Art enttäuscht fühlte von Professor Gattringer, weil er uns seine Monate im Nazikerker verschwiegen hatte? Sollte ich ihm was erzählen über mein junges linkes Schwärmen für den Katz-und-Maus -Film nach Günther Grass’ Novelle, der mich begeistert hatte? Weil wir selber in den Jahren, als sie das Donaukraftwerk bauten, sonntags in den Schottergruben der D o KW schwammen und auf den rostenden Baggerflößen und Schotter-Förderbändern herumkletterten und versuchten, in das Innere der Ungetüme zu tauchen. Was uns aber nie gelang. Oder über meinen Wunsch, linker Student und Demonstrant zu werden nach der Lektüre von Örtlich betäubt?
Oder über meine Hilflosigkeit, als sich Grass dann einfach hinsetzte und sagte, dass er bei der SS gewesen war. Alle sind sie wie dieser Albertus Magnus, pietistischer Scholastiker und Kreuzzug-Hetzer, oder wie Bernhard von Clairvaux, der in Naturmystik schwelgt und die stille Einsamkeit des bloßen Seins besingt und nebenbei eine ganze Generation junger Europäer dazu bringt, nach Palästina zu ziehen und die Muslime zu schlachten. Oder wie Peter Dörfler, dessen Biografen uns anscheinend vorschwindeln möchten, die Nazis hätten sein Schreiben nicht geduldet und ihn zum Verstummen gebracht, während er doch in ihren Verlagen seine zwei dicksten Wälzer herausgebracht hat. Und der zumindest noch 1948, in seinem Severin-Roman, einen Schwulst von Blut und Boden wie eine Lawine losließ auf seine Leser, die allerdings da schon begonnen hatten, ihn zu verlassen.
Ich baute mein Dörfler-Erlebnis bei Wikipedia in Form eines halben Absatzes in den Aufsatz ein. Der Sprecher meiner Auftraggeber riet dringend ab davon. So was will niemand lesen. Erwähnen Sie Dörfler immer wieder einmal, sagte er, beziehen Sie sich auf ihn, aber kommentieren Sie weder seine Biografie noch seinen Stil. Ich widersprach, da wurde er ungehalten. Kein Wort vom Nazizeug im Katalog, sagte er, und dies ist endgültig. Die Landeshauptleute haben klare Zielvorgaben gemacht. Ihr Wunsch ist eine richtig feine kleine Regionalwerbung, mehr nicht, und die Beiträge im Katalog müssen in jeder Hinsicht unantastbar sein.
Die Chancen sind sehr groß, dass wir alles ohne Medikamente in den Griff bekommen, sagte Bodinger. Er gab mir eine Frist von drei Monaten, in denen ich versuchen sollte, zehn Kilo abzunehmen und meinen Lebensstil nachhaltig zu ändern. Sport, kein Zucker, wenig Fett. Vernünftig leben. Danach sei eine endgültige Entscheidung möglich. In drei Monaten bin ich wieder in Kanada, sagte ich. Kein Problem, sagte er, mein dortiger Hausarzt werde mir dasselbe verschreiben. Er werde herüben noch das Internistische abchecken lassen, sagte er, eine Abklärung sei auf jeden Fall angebracht, auch in Hinsicht auf die Hypertonie. Möglicherweise werden wir auch hier keine Medikamente brauchen. Nimm einmal zehn
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