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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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die Gattringer auf eine seltsame Art zu lieben schien, dann fand sich immer jemand in den hinteren Reihen, der die Sache beendete mit einem halblauten Zwischenruf. Faschist! Oder noch lieber: Nazi! Dann brach der Herr Professor ab und kehrte zurück zu seinen Büchern und trug uns daraus den vorgeschriebenen Unterrichtsstoff vor.
    Da waren wir ziemlich arrogante kleine Trottel damals, sagte Bodinger. Von wegen Gattringer und Nazi. Ich habe es in den Nachrufen gelesen. Der war in einer Widerstandsgruppe. Großösterreichischer Widerstand. Klerikale Monarchisten. Die Hälfte der Zisterzienser hat aktiv gewirkt gegen die Nazis, die ihnen das Kloster abgenommen haben und ihnen die bessarabischen Flüchtlinge hineingesetzt haben und dann daraus eine technische Schule gemacht haben. Der Abt ist verhungert in einem KZ . Und der Gattringer, sagte Bodinger und lächelte dabei, Gattringer der Nazi, der war in Gestapohaft, ein halbes Jahr lang.
    Nichts ist wie es scheint. Gerade erst war ich gescheitert an Wikipedia. Ich hatte einen Eintrag gelesen, ich stellte eine Frage dazu, eine ganze Meute von immateriellen Gegenübern begann mich zu belehren und zu maßregeln, dann war meine Frage nach einer Stunde spurlos verschwunden. Jemand mit einem seltsamen Fantasienamen schickte mir ein Mail, in dem er allem Anschein nach den Status meiner Zugangsberechtigung abfragen wollte. Ich antwortete nicht, da ich nicht genau verstand, was er wollte.
    Der Grund war Peter Dörfler. Der dichtende Priester war Leiter des St. Marien-Ludwig-Ferdinand-Heimes in München gewesen. Sein Bestreben war, entwurzelten Kindern eine Ersatzheimat zu bieten, ja Mishi Bizhi, hättest du siebzig Jahre früher gelebt, dann hätte dich möglicherweise der gütige Dörfler unter seine Fittiche genommen, der aufopfernde Seelsorger, der Retter der verlorenen Kinderseelen. Bis zu dritthalb hundert Gestrauchelte habe er betreut, schreibt Wikipedia. Als der Große Krieg anhob, war der Priesterdichter einundfünfzig Jahre alt. Ein Jahr davor hatte ihn die wissenschaftliche und literarische Öffentlichkeit, die eine nationalsozialistische gewesen war, mit einer aufwendigen Festschrift zum Fünfziger geehrt. Während die Wehrmacht Polen angriff und anhob zu einer Serie von Blitzkriegen quer durch Europa, schlossen die Nazis das Erziehungsheim in München. Dörfler brachte die Kinder auswärts unter, heißt es bei Wikipedia. Und dann kommt der Satz. Er selbst wurde mit Schreib- und Publikationsverbot belegt.
    Ein paar Scrollrad-Umdrehungen weiter unten stand die ganz große Ungereimtheit. Die Werkliste Dörflers. Seine Hauptwerke. Albertus Magnus , der biografische Roman über den größten deutschen Theologen und Philosophen des Mittelalters, den Begründer des christlichen Aristotelismus, den väterlichen Lehrer des Thomas von Aquin, den glühenden Verteidiger der Bettelorden, den vom Papst eingesetzten Kreuzzugspropagandisten. Einen Polyhistor größten Stils nannte ihn Dörfler, schon wieder dieses Wort, Polyhistor, es schien es auf mich abgesehen zu haben. Und natürlich fand sich der üppige Wessobrunner-Roman prominent auf dieser Liste, der Wälzer über die katholisch-schrulligen Bewohner des benediktinischen Klosterkünstlerdorfs Wessobrunn im Pfaffenwinkel, die weitum die Landschaft zwischen Loisach und Lech und Starnberger See und Ammersee überzogen hatten mit Kirchenbauten und kunstvollem Stuck und Orgien von erbaulichen Fresken.
    Albertus Magnus erschien 1940. Die Wessobrunner erschienen 1941. Da stand es, schwarz auf blassblauem Grund bei Wikipedia. Ich klickte ein wenig herum auf der Seite, es gelang mir, eine Frage in den Text zu stellen. Wie geht das zusammen, dass der Autor Dörfler unter dem NS -Regime mit Schreib- und Publikationsverbot belegt war, und dass seine beiden größten und wichtigsten Romane jedoch genau in dieser Zeit erschienen sind? Ich gab meine Mailadresse an und bat um Aufklärung. Dann trudelten eine Stunde lang Mails ein, die alle nur Anweisungen beinhalteten, wer sich wie und in welcher Form auf dieser Online-Enzyklopädie zu verhalten habe, dann verschwand meine Frage aus dem Wikipedia-Text zu Peter Dörfler, dann war wieder Ruhe.
    Von großer Selbstgerechtigkeit geprägt waren all diese belehrenden Mailbotschaften. So wie wir uns jung und links und im Besitz der Wahrheit wähnten und mit großer Selbstgerechtigkeit den Ordensmann einen Nazi schimpften, wenn er uns zu klerikal und konservativ daherkam in den Philosophiestunden und

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