Das leere Land
Herr Graf hängen, in Anwendung des Kriegsrechts, wie beschönigende Kommentare schreiben, als kalt kalkulierende, sich um Recht und Gesetz und Moral nicht scherende Abschreckungs- und Einschüchterungsmaßnahme, wie es wohl wirklich gewesen sein dürfte.
Ich schloss Word, ohne eine Zeile geschrieben zu haben, und trieb mich eine Weile auf den Webseiten der Zeitungen herum. Bürgerliche und krawallige Journalisten schossen sich unisono auf den Innenminister ein. Auf den Fotos sah er hilflos aus. Hilflos und sichtlich überfordert. Bisher war es dieser knorrige Mann vom Typ harter, aber herzlicher Landgendarm gewohnt, dass sie ihm auf die Schulter klopften, wenn er nötige Härte gegen die Ausländer zeigte. Nun saß er grau und verblüfft vor den Journalisten und Pressefotografen, verstand nicht recht, warum sie jetzt alle ihn prügelten, der doch nur seine Pflicht tat. Einer von den Pflicht-Tuern, die sie so mögen in diesem Land, doch jetzt überschütteten ihn sogar die miesesten Boulevardblätter mit Spott und Hohn und forderten seinen Rücktritt. Der Klubobmann der Partei des Innenministers, der frühere Bundeskanzler, beschwerte sich in säuerlichem Tonfall in den Mittagsnachrichten: Das Fernsehen habe seine Rede zum Fremdenrecht bei der diesbezüglichen Sondersitzung des Nationalrats nicht vollständig übertragen, sondern umgeschaltet zur Pressekonferenz eines Innviertler Priesters, der offensichtlich den Aufenthaltsort des untergetauchten Asylantenkinds kannte und Details zum Zustandekommen des Videos wusste.
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Immer noch mit dem alten Römerzeug beschäftigt?, sagte Bodinger, ich nickte, er führte mich durch die Ordination in etwas, das er Behandlungsraum 3 nannte, obwohl es nur eine Abstellkammer mit einem Ergometerfahrrad in der Mitte und Regalen voller Messinstrument-Anzeigentafeln und Bildschirmen an drei der vier Wände war. Wir wohnten einst inmitten der Wälder in schnell errichteten Hütten aus Holz und Zweigen, sagte er, wir wechselten oft den Ort, führten unsere Habseligkeiten im Wagen mit uns, wohnten nicht dicht aufeinander, sondern lieber allein. Städtische Siedlungen kannten wir nicht.
Wir?
Wir Germanen.
Wir sind keine Germanen. Wir sind eine Mischung aus Kelten und Römern und Slawen und was weiß ich noch alles.
Kein Nicht-Germane würde freiwillig in Germanenland leben wollen, sagte Bodinger, darum leben hier nur Germanen.
Hast Tacitus noch gut drauf, sagte ich.
Er lächelte. So etwas bleibt fest sitzen, sagte er, und, die Hände hochhebend wie der alte verschrumpelte Lateinprofessor damals: Wer hätte auch – abgesehen von den Gefahren des schrecklichen und unbekannten Meeres – Italien verlassen und Germanien aufsuchen wollen, landschaftlich ohne Reiz, rau im Klima, trostlos für den Bebauer wie für den Beschauer!
Im Behandlungsraum 3 wartete eine Frau in Jeans und Pullover auf uns. Bodinger stellte sie vor als Internistin, mit der er zusammenarbeite. Sie streifte einen weißen Ärztekittel über, den sie nicht zuknöpfte, und begann mir zu erklären, was sie nun mit mir anstellen werde. Ich verstand nicht, was sie meinte, Bodinger grinste und sagte, dass sie sozusagen einen General-Check vornehmen werde. Wir müssen wissen, wie du ganz allgemein drauf bist. So alt und fett wie du bist gibt’s wahrscheinlich auch schon was in Sachen Cholesterin und Hypertonie, das wir wissen müssen, bevor wir in Sachen Diabetes Maßnahmen setzen, die Ärztin sah ihn fragend an, er erklärte ihr, dass er mit mir so reden könne, weil wir uns seit Kindheitstagen kannten, da lächelte sie freundlich und bat mich, den Oberkörper freizumachen. Du bist in besten Händen, sagte Bodinger und ging.
Die Frau im Ärztekittel gab knappe Anweisungen, wie ich mich auf die Liege legen sollte. Bäuerlich war ihr Sprechen, die ganze Person strahlte etwas Erdiges aus, bäuerliche Schönheit, sie sprach langsam und laut. Sie rieb meine Brust mit einer kühlen Salbe ein, Gel, sagte sie, damit die Elektroden kleben. Sie klebten nicht, mit einem kurzen bedauernden Achselzucken nahm sie sie wieder ab, wischte mich trocken und rasierte unterhalb meiner Brustwarzen handtellergroße Hautstellen frei. Dann hielten die Saugnäpfe. Sie hantierte an einem blinkenden und summenden Gerät hinter meinem Kopf.
Hätten die italischen Coloni doch bloß auf ihren Tacitus gehört, dann hätten sie sich das würdelose Ende erspart. Doch sie gehörten einem Kriegervolk an, und ein solches musste expandieren, sich
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