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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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eines heidnischen Irokesen, Tegagouita, Die Ihren Weg Ertastend Geht, so nannten sie die Lilie, als sie vier Jahre alt war und Waisenkind, Eltern und Bruder dahingerafft von einer Pockenepidemie. Das Gesichtchen zernarbt, hässlich wie die Nacht, hilflos ohne die Unterstützung zweier Tanten und eines Onkels, seines Zeichens Mohikanerhäuptling, so hinkte sie durch die Auen und Flure mit ausgebreiteten Armen, um die Äste und Zweige und Stauden zu ertasten, da die Pocken sie so gut wie blind gemacht hatten, wehrte sich heranwachsend gegen jeden Versuch von Onkel und Tanten sie zu verheiraten, ließ sich vielmehr gegen den Widerstand von Familie und Stamm taufen, weil sie beständig das Gebetsmurmeln der toten Mutter in den Ohren hatte bei ihren Irrzügen durch die Wälder, behauptet die Legende, opferte ihre Geschlechtlichkeit dem Herrn, entschied sich für zölibatäres Leben, ohne Weihen, ohne Nonne zu werden, virgo consecrata eben, wie die geheimnisvolle Frau im Holzkirchlein zu Künzing, die sich versteckte hatte, als der Heilige Mann Presbyter Silvinus von den Toten auferweckte. Sie sollte die kleine Wilde sein in meinen Fantasien, eine abstoßend hässliche und daher keusche Wilde, sie würde den alten müden Mann nicht noch einmal so beängstigend und überraschend das Aufkommen von Geilheit fühlen lassen, wie Mishi Bizhi es tat.
    Das zarte, wilde, fremde Kindweib, so verletzt, so sehr verletzt, Kateri beschädigt von den pockenverseuchten Wolldecken der Weißen, Trixikind beschädigt von eigener, Stanleymesser-bewehrter Hand, Verletzte waren sie beide, und ich erschrak vor mir selbst, weil ich fühlte, dass auch das Denken an die blatternnarbige Lilie von Caughnawaga nichts änderte. Ich wusste, hätte ich gelebt zu den Zeiten von Kateri Tegagouita, hätte ich der Dorn sein wollen, der die keusche Jungfrau entjungferte auf Geheiß eines Mohawk-Schamanen, oder hätte Vater Jaques de Lamberville sein wollen, Jesuitenpater und Taufvater Kateris, der als Erster ihr Jungfernhäutchen durchstoßen hat, so deutet es zumindest der große kanadische Dichter an, der so gerne ein Ghettojude in Dachau hätte sein wollen, in seinem Buch von den wunderschönen Verlierern.
    Vor ihrer Haushälfte stieg meine Mutter aus dem Wagen und ging schnell und mit gesenktem Kopf durch den Vorgarten. Die Nachbarn sollten sie nicht sehen, obwohl doch niemand den Grund für ihre mehrtägige Abwesenheit wissen konnte, aber da war ich mir nicht sicher, dem Gemeindearzt und seiner Sprechstundenhilfe war nicht zu trauen, was das ärztliche Schweigegebot betraf. Oben packte sie ihre Tasche aus, trennte sorgfältig die zu waschenden von den noch zu verwendenden Kleidungsstücken, bot mir an, eine warme Mahlzeit zu bereiten, woran ich sie hindern konnte. Sie nahm den Stapel Post, den ich in den letzten Tagen auf der Anrichte in der Küche angehäuft hatte, mit ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch, legte die Prospekte und Gratiszeitungen und Werbezuschriften auf den Tisch, ohne sie anzusehen, und bat mich, den Fernseher einzuschalten.
    Jetzt: Ich würde lieber mit dir reden, sagte ich.
    Was reden?
    Es geht um deinen Lieblingsbruder. Wie das war. Bevor er gestorben ist.
    Sie stand auf, ging in die Küche, schaltete den Wasserkocher ein, rief zu mir herüber, ob ich auch einen Tee wolle, ich verneinte. Umständlich werkte sie herum mit Heißwasser und Teebeutel, es dauerte ewig, bis sie wieder zur Couch kam. Endlich saß sie. Verändert sah sie aus. Ernst.
    Was das für ein Sterben war damals, sagte sie leise, ihr könnt es euch nicht vorstellen. Und begann zu reden, ganz selbstverständlich, es kam aus ihr heraus, als ob sie schon sehr lange darauf gewartet hätte, dass sie jemand fragt. Zwei Brüder sind gefallen innerhalb von ein paar Monaten, murmelte sie, das muss 1943 gewesen sein. In Russland. Stiefbrüder von mir, aus der ersten Ehe meines Vaters.
    Das muss hart gewesen sein für die Oma, sagte ich.
    Sie zögerte. Die Stiefbrüder haben eh nicht mehr daheim gewohnt, sagte sie dann. An die kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Aber daran, wie die Verständigungen gekommen sind, schon, da haben sie sofort die Verständigung gekriegt, diese Nachricht, dass die –.
    Wenn da in so kurzer Zeit dreimal solche Nachrichten kommen, fragte ich, ist das für die Oma – ist sie da irgendwie – zusammengebrochen?
    Wieder dachte sie lange nach. Ich bildete mir ein, dass ihr nicht nur das Antworten schwerfiel, sondern schon das

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