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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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Sich-Beschäftigen mit derlei Sachen von früher. Na ja, ich kann mich nicht so recht erinnern, flüsterte sie, weil die waren für mich – ich war ja noch ein Kind. Fünfzehn, oder sechzehn, höchstens. Aber freilich wird sie, und noch einmal brach sie ab, schwieg für Minuten. Und in meinem Kopf begannen Mutmaßungen zu schwirren, da muss schon die große Verhärtung eingesetzt haben, die Verstummung, die Entscheidung, nicht zu leiden, oder genauer: die Entscheidung, nicht zu zeigen und gegenüber niemandem zuzugeben, dass man leidet. Muss meine Großmutter befallen haben, dieser Entschluss zur Regungslosigkeit, die Zähneausreißerin, die Heilerin des Dorfes, sich selbst konnte sie nicht heilen, nicht schützen vor dieser bleiernen Erstarrung. Und meine Mutter hat es gesehen und gespürt und übernommen, steif und kalt ist sie geworden, da war sie so alt wie das Missabikongmädchen jetzt ist, Mishi Bizhi Trixi, Mädchen Gemacht Aus Eisen.
    Dann setzte sie sich gerade und sprach laut. Ich kann mich nicht erinnern, aber ich glaube nicht, dass sie zusammengebrochen ist. Für die Mutter war das nicht so arg, weil an die drei hat sie ja nicht so Erinnerungen gehabt, also sagen wir etwa, wie die als Kinder waren. Das waren ja seine Söhne aus erster Ehe.
    Und der Opa? Wie hat der –?
    Da weiß ich gar nichts.
    Sie verhärtete sich. Sie stand auf, holte aus dem Wohnzimmerverbau ein Album, zeigte mir Fotos von ihren Halbbrüdern und deren Familien, steife förmliche Männer und Frauen saßen und standen auf den verblassten Bildern herum, Fremde für mich, sie zählte die Namen auf zu jeder Abbildung, sie sagten mir nichts. Mit diesem Herzeigen und litaneiartigen Benennen führte sie sich und mich weg von den Gezeigten und Benannten, mit Erfolg. Als sie schließlich sagte, dass sie doch ein wenig müde werde und sich niederlegen wolle, war ich erleichtert.
    Im Kinderzimmer versuchte ich eine Weile, meine Illusion weiterzuspinnen und sie zu verknüpfen mit Leonard Cohens Romanheldin, Kateri Tegagouita, betrogen um dein Leben, wie meine Mutter und deren Mutter, Heilige Lilie der Mohawk, bitte für mich! Doch es gelang nicht.
    Ich trat zur Freytag&Berndt-Karte an der Wand über dem Jugendbett, Donau-Radweg Passau–Wien–Bratislava, und fuhr mit beiden Händen die Donau auf und ab, wollte sie wegwischen, die Gegend, die meine Heimat sein sollte. Aber Heimat gibt es nicht mehr, es ist nur noch ein Schlagwort für Räuber und Überwältiger und Besitzstandsverteidiger. Heimat ist was für die Starken, nicht für die Schwachen. Heimat ist nicht mehr als eine Eintragung im Grundbuch. Heimat ist etwas, das es möglichst billig einzukaufen und möglichst teuer zu verkaufen gilt. Heimat, das ist dort, wo man auf der Seite der Sieger steht. Heimat, das ist dort, wo man selbst der Stärkste ist und die anderen immer die Schwächeren sind. Dieses Severinusland und Rugiland ist nicht mein Heimatland, aber die Mohawkufer und die wellenumtosten Strände der Großen Seen sind es auch nicht, und nicht der Nebelort, wo der Bulkley River in den Xsan mündet, obwohl das eine Heimat wäre, wie ich sie mir wünschen würde, im Frühherbst, wenn die Bäume noch ihr Laub tragen, es aber schon merklich begonnen hat zu altern, und wenn die Steine riechen wie junge wilde Kinder, die Flussschottersteine, zur Hälfte von Wasser und Schlamm bedeckt, die andere Hälfte der Sonne und der kalten trockenen Luft ausgesetzt, was sie hart und irgendwie gläsern werden lässt.
    Aber das hier auf den Radtour-Karten ist nicht meine Heimat, und darum ahmte ich mit meinem Reiben und Wischen die ungeheure Pendelbewegung nach, die letzten Endes Form, Sinn und einziger Zweck des Wirkens des Severinus gewesen war. Seine Wege entlang des Stromes, ein gewaltiger und unendlich in Gang befindlicher Pendelschlag zwischen Künzing und Zwentendorf, oder war es Zeiselmauer? Durch nichts aufzuhalten schien dieses ewige Hin und Her des Heiligen, um am Ende dann doch kraftlos und kläglich auszuschwingen, innezuhalten, mit betretenem Schweigen zum Stillstand zu kommen.
    Doch während sein Chronist, der getreue Eugippius, dieses Gependel zu einer die Größe des Herrn lobpreisenden und beweisenden, niemals abreißenden Folge von Wundertaten umschreibt, war es in Wahrheit so, dass Severinus mit diesem Auf und Ab entlang der Donau, mit diesem Gehetze zwischen den verwüsteten Kastellen und vor dem Aufgeben stehenden Befestigungsstädten Ufernoricums das Land leer gewischt hat. Er

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