Das leere Land
aufzuheben und ihn über die Wasseroberfläche hüpfen zu lassen, platteln nannten wir das als Kinder. Ich bog nicht ab, weil ich Angst hatte vor dem See. Alles in dieser Gegend, in diesem Land hat mit mir zu tun und ich habe mit allem zu tun. Aber das will ich nicht. Genau genommen war es nicht der See, der mir Angst machte, sondern der Verlust von Kontrolle. Das Sich-Selbständigmachen der Wahrnehmung fürchtete ich. Den Verlust des Vertrauens in die eigenen Sinne. Hier, an diesem Badesee, auf einer seiner Liegewiesen habe ich ein einziges Mal dieses Abhandenkommen der Zuverlässigkeit erlebt. Ich habe die Kontrolle verloren, aus heiterem Himmel.
Zwei Tage davor, in einem einschlägig bekannten Tanzlokal, legte ich eines dieser winzigen Dinger auf meine Zunge, speichelte kräftig ein und schluckte es hinunter, ein etwa einen Millimeter im Quadrat großes Plättchen aus Gelatine, spülte nach mit einem Schluck billigen Rotwein. Nach etwa einer Stunde setzten die üblichen Wirkungen ein, man kennt das ja, und hörten erst am nächsten Vormittag wieder auf. Zwei Tage später, ich lag mit Freunden in der Badeseewiese, kehrte aus heiterem Himmel diese Aufhebung der gewohnten Weltwahrnehmung zurück. Die Luft wurde wie Glas, die vielen Menschen rund um mich bewegten sich gleichzeitig zu langsam und zu schnell, das Wasser nahm eine dunkelviolette Färbung an. Darum fuhr ich lieber nicht zum See, aus Angst, das bloße Dort-Sein könnte meiner Erinnerung an diesen heißen Nachmittag in der Sonne die Macht geben, erneut Phänomene des Realitätsverlusts in meinem Hirn zu evozieren. Keine Lust auf Kristallhimmel und violettes Wasser.
Kurz vor Asten läutete das Handy wieder. Auch diesmal: Anonymer Anrufer. Hallo!, rief ich.
Ja, hallo, sagte das Wasserluchsweibchen.
Wer spricht?, fragte ich, obwohl ich ihre Stimme gleich erkannt hatte.
Ich, sagte sie, Trixi. Ich habe ein Problem. Kannst du mir helfen?
Woher hast du meine Nummer?
Dass sie gegoogelt habe, log sie zuerst, dann erklärte sie ausführlich, dass sie Handynummern sammle, sei eine alte Gewohnheit, alte Gewohnheit klinge seltsam für einen so jungen Menschen, unterbrach ich, sie tat, als hätte sie mich nicht gehört und meinte, dass sie vor zwei Tagen nachts im Auto meine Nummer abgelesen und in ihr Handy gespeichert hätte. Ich könne mich doch noch erinnern, sie sei die Autostopperin von da oben, bei der Ranna-Brücke.
Natürlich.
Können wir uns treffen?, fragte sie.
Wann?
Jetzt.
Eigentlich bin ich unterwegs, sagte ich, schon fast in Niederösterreich. Wo sie denn sei, fragte ich. In Linz, sagte sie, und dass es bloß für eine Stunde sei, sie habe ein Problem, da könnte ich ihr sicher helfen.
Brauchst du Geld?
Kannst du kommen?
Ich sagte Ja. Sie fragte, was ich kenne in Linz. Das Hotel beim Schillerpark, sagte ich, da ist ein nettes Café unten. Okay, sagte sie, dann in einer Stunde. Ich fuhr bei der Kreuzung in Asten auf die Autobahn und zurück nach Linz über die A7.
13
What will become of poor me if my Ninimoshin leaveth me for ever, schrieb Johann Georg Kohl in sein Notizheft auf der bescheidenen Liegestatt in der Missionsstation in Anse am Lake Superior.
Viel zu früh war ich zum Schillerpark gekommen, ging nicht gleich in das Café, sondern hinüber zu den seltsamen aufeinandergestapelten zwei Containern auf der Wiese inmitten der Kurzparkzonen vor dem Billigmarkt, der einmal ein innerstädtisches Kino gewesen war. Diese Container waren Lesesaal, Katalograum und Ausgabestelle der Zentralbibliothek des Landes Oberösterreich während der Renovierung des Stammhauses. Ich fand Dörfler sofort im elektronischen Katalog. Severin, der Seher von Noricum , natürlich. Die Wessobrunner . Und: Als Mutter noch lebte .
Ich bestellte das Mutter-Buch. Die temporäre Entlehnkarte kostete vier Euro. Das Buch sei abzuholen in etwa einer Stunde, sagte die Dame am Ausgabeschalter. Durch den Umbau der Bibliothek sei der Ausgabe- und Lesesaalbetrieb doch sehr eingeschränkt. Es täte ihr leid. Ich fragte nach der Reise von Linz nach Wien von Kohl. Sie tippte kurz in ihren Computer, ja, sagte sie, es sei in den Beständen. Sei jedoch nicht entlehnbar. Ob ich es im Lesesaal einsehen könne, fragte ich.
Im Prinzip schon.
Was heißt im Prinzip?
Frühestens in einem Jahr, sagte sie. Der Band sei wegen der Renovierung des Hauses in einem auswärtigen Depot, und zwar in jenem, aus dem keine Entnahmen möglich seien. Ob ich mich vormerken lassen wolle, fragte
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