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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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ließ.
    Die Krieger ruderten wochenlang den Lorenz hinunter bis zum Großen Wasser. Sie sahen die Weißgesichter mit den Gesichtshaaren nicht, entdeckten jedoch überall ihre Spuren. Was sie am meisten ängstigte: Unweit eines sandigen Strandes am Strom hatte jemand in großen Mengen Bäume abgeschnitten und die Stämme offensichtlich mitgenommen. Der Jossakid und die Bärenkrieger standen um die kurzen Stümpfe der gefällten Espen und Kiefern, betasteten mit mehr Angst als Neugier die glatten Schnittflächen. Noch nie hatten sie gesehen, dass ein ausgewachsener Baum auf diese Art gefällt wurde. Die Spuren ihrer eigenen Holzarbeit mit den Steintomahawks sahen völlig anders aus. Das hier konnte nur die Arbeit eines undenkbar kolossalen Bibers sein, der die Stämme mit eisernen Zähnen einfach abgebissen hatte. Nein, donnerte der Jossakid, dies ist das Werk der weißen Krieger. Und eine ungeheure Furcht befiel die Bärenclanmänner, weil sie erkannten, wie mächtig und überlegen das war, was die Bäume des Waldes, und zwar die größten, mit so großer Leichtigkeit umgelegt hatte.
    Sie fanden Wollknäuel, Stücke von bunten Calico-Decken und andere Stofffetzen. Sie wanden sich die aus einer anderen Dimension gekommenen Lappen um die Köpfe, hängten Wolle an ihre Ohren, um die fremde Macht zu bannen. Daheim dröselten sie den textilen Abfall, den offensichtlich ein französischer Holzfällertrupp hinterlassen hatte, auf in tausend Fädchen und verteilten sie, so dass jeder Krieger etwas abbekam. Damit sie alle Anteil hätten an den magischen Erzeugnissen.
    Jones’ Erzählung wird an dieser Stelle von Kohls Aufzeichnungen ein wenig verwirrend, es ist nicht ganz klar, ob die Makwa-Truppe bereits bei dieser Expedition auf Franzosen stieß, oder ob es erst Monate oder Jahre später zur ersten Begegnung kam, als die Europäer sich immer weiter nach Westen ausgebreitet hatten. Jedenfalls trafen die Bärenclankrieger irgendwann auf die Männer mit den Eisenkleidern und den lärmenden Stöcken, und der Wahrsagertraum des Jossakid erwies sich in allen Details als zutreffend, erzählt Jones mit Nachdruck.
    Kohl ist skeptisch, was das Hellsehen und Prophezeien betrifft. Was mir sehr gefällt. Ich darf meine Leser daran erinnern, schreibt er, dass auch bei der Conquista Südamerikas die Ankunft der Spanier lange vor deren eigentlicher Landung von diversen Propheten und Priestern angekündigt worden ist. Und kühl formuliert er: Unfähig, die Gabe der Vorausschau bei Sehern anzunehmen, dürfen wir uns vorstellen, dass die einflussreichsten Männer der Stammesgesellschaften, also die Priester, die Ersten waren, die Gerüchte und Augenzeugenberichte gehört haben müssen. Um ihre Reputation zu erhöhen, hätten sie dann das unerhörte Neue weitergegeben an die Ihren als Traum, als Prophezeiung, als Ausfluss seherischen Vermögens.
    Was würde dieser Rationalist Johann Georg Kohl wohl zu Eugipp und Severinus sagen. Der Heilige Mann, der Seher Noricums, war als Beichtvater und als mutmaßlicher Adelsmann und letzten Endes in politischer Mission reisender Verwaltungsmann des fernen Rom einfach besser informiert; hörte Gemunkel als Erster, wusste durch seine blendenden Beziehungen zu den italischen Militärs und den barbarischen Fürsten als Erster von bevorstehenden Angriffen, Truppenbewegungen, Nachschubproblemen. Im fernen Rom ist falsch, fiel mir ein, der Regierungssitz des zerbrechenden weströmischen Reiches muss Ravenna gewesen sein, oder noch Mailand, keine Ahnung, nahm mir vor, es gleich zu googeln im Pensionszimmer, mein Gott, dachte ich, was tu ich mir an. Giese und Dörfler gehen damit viel lockerer um.
    Damit die von den Völkerwanderungszeiten gebeutelten und von vielerlei Ängsten heimgesuchten Noricer das Unerhörte glaubten, das er ihnen erzählte, tat Severinus dasselbe wie die Jossakids und Visionen-Erträumer und Schamanen und Midé-Priester der Azteken und Maya und Makwa und Anishinaabe. Er nahm das Gehörte, das im Vertrauen Zugeflüsterte, mischte Erahntes dazu, intuitiv Erfasstes, erweiterte die Sache mit sorgfältiger Einschätzung der aus dem Gehörten zu erwartenden Konsequenzen. Das gab er dann als Resultat seiner Gabe aus. Als Prophezeiung, gewährt durch den Herrn. Und die Noricer nahmen seine Warnungen ernster, wenn er sie in das Wunderkleid gehüllt hatte.
    Ich stellte mir den Jossakid des Makwa-Totems, von dem Peter Jones erzählt, als einen Severinus des Bärenclans vor, barfuß die Wälder am

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