Das leere Land
Tiefseewurm, der sich von den Knochen toter Wale ernährt, die auf dem Meeresboden vor sich hin verrotten. Das Osedax-Weibchen frisst Höhlen in die Walknochen, in diese Höhlen hinein steckt es seinen Eisack. In diesem Sack, also im Inneren des Weibchens und damit im Inneren des Walknochens, leben bis zu zweihundert Männchen, die massenhaft Sperma produzieren und damit die ebenfalls im Eisack befindlichen Eier des Osedax-Weibchens befruchten. Ich hatte es irgendwo gelesen. Sinnloses, unsystematisch angelesenes Wissen ist meine Spezialität. Komme nicht los davon, obwohl ich weiß, dass Wissen nur glänzender Schein ist und der Beginn der Unwissenheit.
So was weißt du, sagte sie unverhältnismäßig laut, und dass sich anscheinend nicht viel geändert habe mit mir. Sie lachte ein kleines komisches Lachen, als ob es ihr peinlich wäre, über Privatangelegenheiten zu sprechen, dann fuhr sie fort. Immer sei ich hinter Zeitungen und Buchseiten verschwunden gewesen, sobald ich Lesen gelernt hätte, und später dann ebenfalls völlig abwesend vor dem Fernsehbildschirm gehockt. Das wirkliche Leben hätte mich nie so interessiert wie das in Büchern und im Fernsehen. Das wirkliche Leben, so formulierte sie es.
Sie hat recht, dachte ich, und wusste zugleich, dass ich das niemals zugeben würde. Ihre Beobachtung war eine zutreffende, besonders was die Jahre in Thunder Bay und Marathon betraf. Während der intensiven Beschäftigung mit Kohl und seinen Ojibbeway war mir aufgefallen, dass mich alles, was nicht im von Kohl beschriebenen Kosmos vorkam, zunehmend weniger interessierte. Es hatte mich allerdings nicht gestört, im Gegenteil. Ich hatte es als Minderung von Belastung empfunden.
Was meinst du mit wirklichem Leben?, fragte ich.
Was so los war. Im Dorf. Und was man so erlebt hat.
Wer ist man?
Man halt.
Welcher man?
Wenn man dir was erzählt hat, wie es früher war, zum Beispiel, da hat dich das nie interessiert. Gleich hast du wieder ein Buch in der Hand gehabt.
Ich hatte Angst, etwas zu sagen, weil ich wusste, dass dieses Zittern, das sich in mir auszubreiten begonnen hatte, auch meine Stimme befallen würde, und dass sie merken würde, wie wütend ich war. Nichts hast du mir erzählt, wollte ich sie anschreien, und spürte den starken Drang, etwas zu zerstören. Wie in Sam Shepards Don’t Come Knocking , wo der Sohn einer elendig mickrigen Vaterfigur seiner Mutter Jessica Lange ins Gesicht schreit, nichts hast du mir erzählt, und dann die gesamte Wohnungseinrichtung zerstört. Ich musste lächeln, wegen der Koinzidenz, als mir einfiel, dass in der nächsten Szene dieses Filmes ein blutjunges Mädchen im Hotelzimmer des alten Mannes auftaucht, und der macht sich beinahe in die Hosen aus lauter Angst vor dieser geballten Attacke von Jugend.
Und da fing sie zu reden an, ich verstand nicht alles, weil Assinger und die Säuselmusik seiner Show zu laut aus dem Fernseher kamen. Sie begann, mir ihre Geschichte zu erzählen, richtig strukturiert, beginnend am Anfang. Wo sie herkam. Wer ihre Eltern gewesen waren. Was sie getan hatten. Wie das so war damals, in ihrer Zeit, als sie ein Kind war, an den Plätzen, an denen ich ein halbes Menschenleben später Kind gewesen war. Sie tat, was ich mir halb eingestanden immer gewünscht hatte, doch jetzt machte es mir Angst. Mit Widerstreben nur konnte ich ihr zuhören. Wobei mir nicht klar war, ob ich befürchtete, dass sie glaubte, bald sterben zu müssen, und darum ihre Geschichte loswerden wollte, oder ob mich der Gedanke erschreckte, es könnte nach so vielen Jahren plötzlich zu Gefühlsausbrüchen zwischen ihr und mir kommen. Oder ob ich einfach nur Angst vor ihren Geschichten hatte.
Ich gebe dir ein Beispiel, sagte sie. Vom ganzen Dorf sind die Kinder zum Zähneziehen zu meiner Mutter gekommen.
Zu meiner Großmutter. An die ich so gut wie keine Erinnerungen habe, sie war gestorben, als ich zwei Jahre alt gewesen war.
Meine Mutter breitete eine lange Vorgeschichte aus, von ihrem Vater erzählte sie, dem Fassbinder, der vier Söhne gezeugt hatte vor dem Ersten Weltkrieg, der dann für den Kaiser ins Feld gezogen war, und während er kämpfte in den Dreckslöchern dieses Krieges, wo genau, das wollte oder konnte sie nicht sagen, war seine erste Frau gestorben daheim, und da stand er jetzt mit den vier kleinen Buben.
Von ihrer Mutter erzählte sie, die auch verheiratet gewesen war, mit einem Nähmaschinenmechaniker. Der fuhr jeden Tag mit dem Fahrrad von dem Dorf nach
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