Das leere Land
Linz, in die Arbeit, und wieder zurück am Abend, bei jedem Wetter, fünfzehn Kilometer in eine Richtung. Bis er sich eine Lungenentzündung holte. Und starb. Da waren zwei Kinder da, sagte meine Mutter, ob ich die kenne, unterbrach ich sie, natürlich, sagte sie und nannte die Vornamen von zwei Tanten, die so früh schon gestorben waren, dass ich mich nur noch schemenhaft an sie erinnern konnte.
Ich staunte, wie lapidar sie das erzählte. Meine Mutter hat dann den Vater geheiratet, bei ihr waren zwei Kinder da, er hat schon vier gehabt. Und: Natürlich hat sie sich sehr schwer getan, weil die Buben waren gerade in so einem Alter, wo sie ein wenig wild waren. Da hat es Probleme gegeben, weil sie ihr alles zu Fleiß getan haben. Weil sie sie nicht akzeptiert haben, am Anfang.
Sie stockte und zögerte nur, als sie zu erklären begann, weshalb meine Großmutter zur Zähneausreißerin des Dorfes geworden war, dann, als sie redete, räusperte sie sich häufig und warf mehrfach die Floskel ein: Wie soll ich das jetzt sagen. Dass ihre Mutter in Alkoven Kind und junge Frau gewesen war, sagte sie, dass sie als lediges Mädchen beim örtlichen Arzt gearbeitet hatte, als Dienstbotin und bald Mädchen für alles. Dass es damals noch keine Sprechstundenhilfe gegeben habe in dem Sinn, wie wir das kennen. Dass also ihre Mutter hatte einspringen müssen, wenn der Arzt Hilfe brauchte, wenn etwa ein Bauer nach einem Unfall zu versorgen war. Da hat sie sich viel Wissen angeeignet, sagte sie, und nach einer langen Pause: Und auch bei Entbindungen hat sie mittun müssen, wenn es kritisch geworden ist.
Ganz rasch nahm die fremde Frau von den Fotos an der Wand, die meine Mutter ist, Konturen an. Ihre Geschichte hätte meine sein können, abgesehen von den Details und den Entwicklungsstufen von Verkehrsmitteln und technischen Geräten. Es war die Erzählung von der üblichen ärmlichen Kindheit im Dorf. Es war dieselbe Verweigerung einer Verklärung. Es war das leise, aber konsequente Einstehen gegen die Behauptung, man sei zwar arm, aber zufrieden gewesen. Es waren keine guten alten Zeiten gewesen, in denen die Kranken und die Verunfallten statt zum Arzt zu einer Dorfbewohnerin gingen, die in ihrer Jugend Putzfrau und Köchin bei einem Arzt gewesen war.
Meine Mutter lachte. Ja, sagte sie, man hat ja beim Doktor noch alles selber zahlen müssen, darum haben sie die Mutter geholt. Ob sie ihr auch etwas bezahlt haben, wollte ich wissen. Geld nicht, sagte sie, aber Naturalien. Sie lachte kurz auf wegen des komischen Wortes, Naturalien, präzisierte dann. Eier. Speck. Most. Sie lachte so heftig, dass es in einen kurzen Hustenanfall überging. Der nächste erreichbare Arzt sei in Ottensheim gewesen, sagte sie dann, das sei den Leuten zu weit gewesen. Und in der Nacht sei die fliegende Brücke überhaupt nicht gefahren.
In der Nacht flüsterte die Teufelseiche verworrene Stanzen in meinen Schlaf, von Dorfkindern, die voller Angst in den Stuben saßen und horchten, horchten, und zu zittern begannen, als sie die Schritte der Zähnereißerin draußen im Vorhaus hörten, in ihren schweren Bauernklompen, die dicken hölzernen Sohlen krachten auf den Granitsteinen des Vorhausbodens. Ein Karl May’sches Erzgebirgsdrama von Not und Elend wuchs da in meiner Fantasie, eine gewaltige Geschichte von hinterwäldlerischer Armut, und von Menschen, die sich nicht wehrten, die als gottgegeben hinnahmen, was ihnen eingebrockt wurde.
Das Elend in seiner nackten, beredten Wirklichkeit flüsterte die Eiche in ihrem Brabbeln vor sich hin, finstere rußgeschwärzte Wohnlöcher besang sie, Kälte und Mangel, Menschen gehüllt in Lumpen, die kaum ausreichend Schutz boten vor dem Frost. Es waren außerordentlich schöne Verse, die die Eiche von sich gab, und zugleich von einer großen Bedrohlichkeit und funkelnden Bosheit. Am Morgen hatte ich die Worte vergessen.
Interessiert dich das eigentlich?, hatte meine Mutter gefragt, als Assingers Sendung am Abend zu Ende gegangen war und sie sich leise ächzend aus der Couch gehoben hatte, um ins Bett zu gehen.
Natürlich.
Dann reden wir morgen weiter. Sie lächelte und sagte: Aber dann ohne Fernseher.
Gerne, sagte ich, und merkte, dass mein Widerstreben zu schwinden begann.
34
Der Vollständigkeit halber war ich am Tag des Zeiselmauer-Besuchs auch nach Zwentendorf gefahren, war in Bärndorf von der Landesstraße 112 abgebogen hinunter zur Donau und hatte den Wagen abgestellt auf dem beinahe leeren Parkplatz
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