Das leere Land
Anfang ihrer Laufbahn und Vertragsbedienstete erkannte man am VW Käfer oder, nach einigen Dienstjahren, am VW TL oder Variant. Ab dem Regierungsrat, egal ob einfacher oder wirklicher, Audi 80. Und ab dem Hofrat Audi 100.
Mein Vater, der Maurer, kaufte nicht wie seine Kollegen einen BMW oder Alfa Romeo, sondern demonstrativ einen Audi 100 als sein erstes Auto. Um die Bauern zu ärgern. Die großen Bauern fuhren Mercedes-Neuwagen, die ein wenig weniger großen Bauern gebrauchte Mercedes, die kleinen Bauern Volkswagen oder kleine Opel. Und die Bauern, die so klein waren, dass sie als Hilfsarbeiter in den Nebenerwerb gehen mussten, fuhren mit dem Schichtbus der Vöest. Mit der Anschaffung eines Fahrzeugs, das in einem völlig anderen Zeichensystem an der Spitze stand, zeigte mein Vater den Bauern im Dorf, dass er sich um ihre Hierarchie überhaupt nicht kümmerte. Es war für sie eine Ohrfeige. Noch schmerzhafter in ihrer Wirkung durch den Umstand, dass er nicht auf dem kürzesten Weg hinaus auf die Bundesstraße fuhr und dann zur Schicht, sondern Tag für Tag einen Umweg machte, durch das ganze Dorf, an jedem Hof vorbei, damit sie ihn alle sahen in seinem Hofratsautomobil.
Gleich geriet ich ins Schwitzen, obwohl es morgendlich kühl war draußen. Zucker und Fett, im Übermaß durch Jahrzehnte gelagert in meinem Körper, trieben mir die Perlen auf die Stirn, schnürten mir die Luft ab bei dem kleinen Hangstück hinter den Apfelbäumen, wo der Rasenmäher hangaufwärts geschoben werden musste. Dann ein stechender Schmerz am Knöchel, der Motor stellte sich von selbst ab, als ich die Führungsgriffe losließ und mich zum Schmerz beugte. Kleine, in hohem Ton summende Insekten kamen aus der Erde gekrochen und flogen dicht über dem Boden auf mich zu. Und stachen oder bissen mich, siebenmal, in Ferse und Unterschenkel, drei links, vier rechts. Sie hatte mich fluchen gehört, öffnete das Wohnzimmerfenster und rief, was denn los sei.
Nichts, sagte ich, nur ein paar Wespenstiche.
Oh Gott, rief sie, du hast das Nest der Erdwespen aufgemäht. Ich hätte dir sagen sollen, dass du aufpassen musst bei der Steinmauer. Komm sofort herein!
Ich gehorchte, auch als sie sagte, ich solle die Socken ausziehen und die Füße hochlegen auf dem Sofa. Sie ließ kaltes Wasser über frische Geschirrtücher laufen und wand sie über meine Fesseln und Unterschenkel. Dann holte sie das Telefon, ich fragte, was sie vorhabe, den Doktor anrufen, sagte sie.
Wozu?
Im Sommer ist ein Mann im Innviertel gestorben. Der war jünger als du. Drei Erdwespen haben ihn gestochen. Nach einer Stunde war er tot. Herzversagen. Ist in allen Zeitungen gestanden.
Sie telefonierte lange mit ihrem Hausarzt, in der Küche, damit ich nicht zuhören konnte. Anschließend kam sie mit nur mühsam unterdrückter Besorgnis in ihrem Blick zum Sofa. Wenn dir im Lauf der nächsten Stunde nicht kalt wird, und wenn es nicht anfängt, dich am ganzen Körper zu jucken, dann ist es in Ordnung, sagte sie. Andernfalls sollen wir ihn sofort anrufen. Sie sah mich an und lächelte schief. Ist auch dann kein Problem, sagte sie, wenn er rechtzeitig was gegen die allergische Reaktion spritzt, ist es harmlos.
Eine Stunde lang lag ich auf dem Sofa, die Beine hochgelagert auf der Lehne, die von den nassen Geschirrtüchern immer feuchter wurde. Sie wechselte alle zehn Minuten die Tücher aus und fragte, wie es mir gehe. Gut, sagte ich. Sie setzte sich zu mir auf die Couch und begann zu erzählen von der Zähneausreißerin. Und zerstörte mit ein paar Sätzen das Bild, das ich mir gemacht hatte von meiner Großmutter als Schrecken der Kinder, gefürchtet wegen ihrer dentistischen Schwarzarbeit.
Die Kinder sind lieber zu ihr gegangen zum Zähnereißen als zum Gemeindearzt, sagte sie, viel lieber. Bei ihr haben sie keine Angst gehabt. Da war die Anne, an die kannst du dich gewiss erinnern, die hat zum Schreien angefangen und zum Toben, wenn sie zum Doktor fahren wollten. Die ist nie zu einem Zahnarzt gegangen. Nein, hat sie gesagt, nur zu der Fasslbinder-Oma.
Ich kann mich erinnern an die Anne. Die Tochter des Großbauern, von dem mein Vater die kleine, schäbige Wohnung gemietet hatte. Die Erste im Dorf mit einem Minirock. Einen wirklichen Skandal hatte es gegeben, als sie mit einem hautengen Lederanzug aus dem Hoftor marschiert und hinuntergegangen war zum Frühbus, um in die Schule zu fahren. Schwarzes Kunstleder, geschnitten wie die Anzüge, die Diana Rigg als Emma Peel getragen hatte.
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