Das leere Land
Heiligen Mann, er möge mit der erprobten Fürbitte seiner Gebete die so schreckliche Plage abwenden. Der kam ihnen gleich mit seinen Sprüchen und Belehrungen, bekehret euch durch Tränen, blaffte er sie an, zitierte einen der zwölf Propheten, Joel, bekehret euch zu mir mit Fasten, Weinen und Klagen, und befahl, die Felder alleinzulassen und keinerlei Abwehrmaßnahmen gegen die Ungezieferplage vorzunehmen. Stattdessen versammelte sich die ganze Gemeinde in der Kirche von Cucullis zu antiphonischem Psalmengesang, wie die Fachwelt das hin und her gehende abwechselnde Herunterleiern von Singsangversen nennt. Man sang, man betete, man vergoss Tränen, man gab unablässig Almosen, den ganzen Tag lang.
Nur einen einzigen Mann, den ärmsten der Kuchler, den mit dem kleinsten Stück Ackerland, den hielt die Sorge um sein Hab und Gut nicht in der Kirche, er lief hinaus zu seinem Feld, das winzig zwischen den Saatfeldern der anderen lag, und verjagte voller Angst und mit größtem Eifer den ganzen Tag die schwebende Wolke von Heuschrecken von seinem Grundstück. Am Abend kehrte er zurück in die Kirche, empfing das Abendmahl, blieb bei der Gemeinde. In der Nacht wurden die Heuschrecken auf göttlichen Befehl aus der Gegend um Kuchl vertrieben.
Am Morgen aber, da schaute dieser eine unbesonnene Verächter der Worte des Heiligen Mannes ganz schön blöd aus der Wäsche. Die Saatfelder aller Kuchler waren verschont geblieben. Nur das seine nicht. Kahl gefressen bis auf den Grund, in schnurgerader Linie folgte der Biss der Plage den Grundgrenzen des verstockten Mannes. Wie jammerte und klagte dieser Ungläubige da, wie bestaunten und lobpreisten die Kuchler hingegen dieses Wunder.
Sie müssen jetzt kein großartiges Kapitel zu Kuchl und den dort stattgehabten Wundertaten des Severin verfassen, sagte der Sprecher meiner Auftraggeber. Kuchl ist nicht Teil der Doppellandesaustellung. Erwähnen Sie das Heuschreckenwunder, ja, finden Sie Bezugslinien zur hagiografischen Tradition, Stichwort Heuschreckenplagen im Alten und im Neuen Testament, aber nicht mehr. Und nach einer Pause: Was schreibt eigentlich Giese zu Kuchl?
Zu den Heuschrecken kaum etwas, sagte ich, und das wenige ist der Versuch einer rationalen Erklärung. Es habe keinen Sinn, sich zu wehren gegen etwas, das nicht abzuwenden sei, so interpretiert Giese das Vorgehen des Severinus, dieser habe nicht mehr getan als die Engherzigkeit und Selbstsucht der Bürger in ein wenig stoische Gelassenheit und anschließend in solidarisches Handeln zu verwandeln.
Typisch Giese, sagte der Sprecher meiner Auftraggeber und lachte.
Man könnte an dieser Stelle des Aufsatzes einen kleinen verschlüsselten Einschub platzieren, sagte ich, über die seltsame Verfasstheit der spätantiken Heuschreckenschwärme, wie wählerisch sie waren in ihrer Gefräßigkeit, könnte ins Allgemeine abschweifen, wie wenig sich verändert hat, wie noch immer die Heuschreckenentscheidung über Fressen oder Nichtfressen nichts zu tun hat mit den Einflussnahmen versöhnlicher oder unversöhnlicher Götter, sondern nur zu tun hat mit einfacher Algebra.
Algebra?
Der Schwarm frisst nur das, was sich rechnet, aus seiner Sicht. Mobiltelefonnetze ja, Festnetze nein, auf einen fiktiven Restwert abgeschriebene Wasserkraftwerke ja, ländliche Infrastrukturen nein. Der Schwarm spielt das simple alte Spiel. Privatisiere Gewinnversprechendes, vergesellschafte Verlustbedrohtes.
Sie sind wie Giese, sagte er, ohne dass Sie es merken. So ein Einschub, der mir für den Aufsatz aus grundsätzlichen Erwägungen doch sehr unpassend erscheint, würde aus einem Abstand von zwanzig Jahren genauso antiquiert und leichten Belächelns wert wirken, wie Gieses befreiungstheologische friedens- und studentenbewegte Auslassungen es für uns heute tun.
Dörfler dagegen –
Ach, Sie und Ihr Dörfler!
Dörfler dagegen folgt wie immer Eugipp, und als geschulter Gottesmann ergänzt er um einige Zitate aus dem Alten Testament: So verderben die Heuschreckenschwärme alles; vor ihnen blühendes Land, hinter ihnen Wüste. Ausführlich beschreibt er dann, wie Severinus die Kuchler aufgerufen hatte, Freigebigkeit zu zeigen und dem einen Heuschreckenopfer Nahrungsmittel für das laufende Jahr zu spenden. Woraus Pfarrer Dörfler seinen Lesern eine schöne Lehre bastelt: Der ungläubige Kleinbauer habe somit beides in einem erfahren, sowohl die Strafe des gerechten wie das Erbarmen des gütigen Gottes.
Wenn man es genau betrachtet, sagte ich
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