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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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Mitternacht aus ihrem Leib. Es war ein sibirisch kalter Montag, bis minus fünfundzwanzig Grad war die Temperatur in der Nacht gefallen. In den zugigen, schlecht gedämmten Arbeiterwohnungen froren die Wasserleitungen ein. Hätte sie mich eine halbe Stunde früher geboren, wäre ich ein von Glück gesegnetes Sonntagskind geworden. So aber!
    Severus der Weber, den sie in Ravenna zum Bischof machten, weil sie sich nicht entscheiden konnten, wen sie nehmen sollten aus einer Schar von Bewerbern, bis eine Taube dreimal sich niederließ auf seinem Haupt, ist gestorben an einem Severustag, 1609 Jahre vor meiner Geburt. Verehrt wird er in Erfurt. Ein Priester hatte die Gebeine des Heiligen und jene seiner Frau und Tochter gestohlen und sie in den Norden geschafft. Im Erfurter Dom steht der Heilige in Stein gemeißelt an der Wand, mit Bischofsstab und Bibel, flankiert von Gattin Vicentia und Töchterchen Innocentia, die Frauen tragen Heiligenscheine. Wie das zusammengeht, ein Bischof, der gemeinsam mit Frau und Kind verehrt wird, und das Zölibatsverlangen der Kirche, das ist eine der Fragen, die nicht gestellt werden.
    Und auch nicht diesen Anfang meine ich: Brigach und Breg bringen die Donau zu Weg, so sprichwortet es im hohen Schwarzwald, und Fahrradtouristen stehen andächtig im Park des fürstlich Fürstenbergischen Schlosses in Donaueschingen vor dem kreisrunden Steinbecken, das die Wiege der Donau sein soll, der Zusammenfluss der Bäche Brigach und Breg. Dann stellen sich die Radler auf vor dem monumentalen grauen Steingebilde dahinter, eine Mutter mit einem Kind im Schoß ist es, jedoch keine schwäbisch-alemannische Schwarzwald-Pieta soll es darstellen, sondern Mutter Baar, die den Namen hat von der sie umgebenden Hochebene; und das Kindlein soll die junge Donau sein, der die Mutter den Weg weist, hinaus in die Welt, den sie gehen muss, um zum Großen Schwarzen Strom zu werden, der fließt vom Schwarzwald bis zum Schwarzen Meer. Irma und Max Egon haben dies Denkmal ihrem Heimatort geschenkt, aus Anlass ihrer Goldenen Hochzeit im Juni 1939, steht auf dem Sockel. Oben drauf, in die Ritze zwischen den Kittelfalten von Mutter Baar und dem gekippten Kelch, aus dem das Donaukindlein Wasser gießt, hatte jemand eine Münze gesteckt, sollte wohl eine Art Pfand sein, das Wiederkehr herbeizaubert, wie die Münzen im römischen Trevibrunnen. Vor langer Zeit schon musste jemand diesen Talisman abgelegt haben dort oben, denn es war ein Einmarkstück.
    Durch die Jahrhunderte haben sie gestritten, was der wahre Ursprung sei, die Furtwangener sagen, dass es ihre Breg ist, die St. Georgener sagen, es ist ihre Brigach, und die Donaueschingener sagen, dass es ihr Donaubach ist, obwohl der gleich draußen vor dem Schloss entspringt und sich schon nach ein paar Hundert Metern mit der Brigach vereint, und obwohl dies Bächlein seit bald zweihundert Jahren über den Großteil seiner Fließstrecke nicht zu sehen ist, weil man es verbannt hat in Kanalrohre unter der Erde. So unerbittlich beharrte jeder Ort auf seinem Status als Stätte des Donauursprungs, dass die Geografen schließlich entschieden, den mächtigen europäischen Strom nicht wie sonst bei allen Flüssen üblich von der Quelle bis zur Mündung zu vermessen und mit Stromkilometersteinen zu versehen, sondern genau umgekehrt. Kilometer eins beginnt zwischen Rumänien und der Ukraine, man kann nicht einmal streiten um einen Ort der Mündung, so zerfranst ufert das Delta aus. Und das andere Ende dieser Messung liegt je nach Interpretation bei Kilometer zweitausendachthundertfünfundvierzig im fürstlichen Schlosspark zu Donaueschingen oder bei Kilometer zweitausendachthundertachtundachtzig im Wald bei Furtwangen.
    Nein, in meinem Kopf ging die Frage um, was in den Köpfen derer vorgegangen sein mochte, die als Erste standen an diesen Ufern des breiten Stromes, der noch ein schnell fließender gewesen war, in den frühen Zeiten des nordischen Landes. Aus dem Süden mussten sie gekommen sein, so wollte ich es haben, obwohl es eigentlich nur Wanderer aus dem Osten gewesen sein konnten, die Nachfahren der Menschen, deren Knochen in der Bärenhöhle von Peştera cu Oase liegen, Rumänien, es sind die ältesten Relikte des Homo sapiens, die je in Europa gefunden wurden. Aber für meine Geschichte sollte es der Süden sein, denn im Norden war Eisland, unbewohnbar, unbegehbar, kein Erforschungsabenteuer lohnend für die frühen Eroberer.
    Immerzu waren sie nach Norden gezogen, dem

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