Das Legat der Toten
sie. Sie haßte diese komische heile Welt. Für sie zählten andere Dinge. Sie wollte Action und Spannung, aber keine Tristesse und die große Langeweile wie hier.
Jemand klopfte an ihre Tür. Miranda blies den letzten Rauch aus und drückte die Kippe in den Ascher. »Ja, was ist denn?«
»Kann ich reinkommen?«
»Bitte.«
Es war die Wirtin, die wie schon an den beiden Tagen zuvor ihren geblümten Kittel trug und sich ein Tuch um den Kopf gebunden hatte. So etwas kannte sie wohl aus dem Fernsehen. Mit flinken Augen schaute sie sich um und strich mit dem Zeigefinger über den dunklen Damenbart auf der Oberlippe hinweg.
»Kann ich was für Sie tun?« fragte Miranda.
»Naja... ähm... ich weiß nicht so recht. Ich wollte eigentlich hier saubermachen.«
Miranda hielt das Lachen nicht zurück. »Hier saubermachen? Habe ich richtig gehört?«
»Ja.«
»Warum das denn?«
Die Wirtin plusterte sich auf. »Na hören Sie mal. Sie wohnen jetzt den dritten Tag hier. Da muß das Zimmer mal gesäubert werden. Schließlich führe ich eine Pension und keinen Stall.«
Viele Unterschiede gibt es da nicht. Miranda dachte es nur, sprach es nicht aus. Dafür ging sie auf die Worte der Wirtin ein. »Im Prinzip haben Sie ja recht, aber bitte nicht jetzt. Ich möchte ein wenig Ruhe haben und mich hinlegen.«
»Gut, dann sagen Sie mir Bescheid.«
»Das werde ich gern tun.«
Die Frau nickte noch einmal in Miranda’s Richtung, bevor sie sich zurückzog. Ihre Schritte verklangen draußen auf dem engen Flur, und Miranda war zufrieden. Sie hatte die Person nicht einmal angelogen, denn sie wollte sich wirklich hinlegen. Es war besser, wenn man sich ausruhte und Kräfte sammelte, denn sie wußte nicht, was die Zukunft noch alles brachte.
Das Bett verdiente zwar seinen Namen, zugleich war es auch eine Mulde, die sich in der Mitte einbeulte.
Ein Mensch mit Rückenproblemen würde auf dieser Liegestatt durchdrehen.
Miranda verfluchte das Bett. Nur blieb ihr keine Alternative. Warten, nur warten, und genau das ging ihr auf die Nerven. Es würde etwas passieren, da war sie sicher, nur der Zeitpunkt war ihr unbekannt. Sie würde ihn auch nicht beeinflussen können.
Der Morgen, der Mittag, der Abend – hier veränderte sich nichts. Die Zeit tickte dahin. Langsamer als normal, wie Miranda meinte. Man pflegte die Langeweile, und der Vergleich mit einer Gefängniszelle kam ihr ebenfalls in den Sinn. Es gab keine Abwechslung, kein Radio, erst recht keinen Fernseher. Als einzige Unterhaltung stand ihr die Wirtin zur Verfügung, und darauf konnte sie gut verzichten.
Wo war die Macht, die sie kontrollierte? Wie würde sie sich zeigen? Wann endlich traf sie mit den anderen beiden zusammen, deren Gesichter sie aus den Zeitungen kannte? Oder gab es die Männer nicht mehr in Freiheit? Es konnte durchaus sein, daß sie gefunden worden waren und schon in den Zellen saßen. Miranda war hier vom Weltlichen abgeschnitten. Keine Zeitung, keine...
Etwas störte sie!
Die Gedanken brachen ab, weil sie über das nachdenken mußte, das soeben passiert war. Etwas nicht Sichtbares war an ihrem Gesicht entlanggestreift. Ein Luftzug, eine Berührung. Von oben nach unten, dann von rechts nach links.
Sie blieb starr liegen. Das Fenster war ebenso geschlossen wie die Tür. Von dort hätte sie der Luftzug nicht erwischen können. Er mußte eine andere Ursache haben, und Miranda glaubte jetzt, daß die andere Seite den Kontakt aufgenommen hatte.
Sie wartete ab, ob sich die hauchzarte Berührung wiederholte. Das konnte es doch nicht gewesen sein, da mußte noch etwas folgen, aber sie wartete vergebens.
Sie schimpfte leise, als sie sich zur Seite drehte und aufstand. Sie haßte ihre Gefangenschaft. Sie haßte das, was mit ihr gemacht wurde. Sie hätte am liebsten alles gegen die Wand geworfen. Sie haßte auch die Stimme, die ihr bisher so gute Ratschläge gegeben hatte.
Auf der Bettkante blieb sie sitzen. Es war wohl mehr Zufall, daß sie dabei ihr Gesicht abtastete – und plötzlich zusammenzuckte, weil sie auf ihrer Stirn etwas berührt hatte, das zuvor noch nicht vorhanden gewesen war.
Ein Umriß. Feucht. Leicht klebrig. Miranda war neugierig geworden und stand auf. Es hing ein Spiegel an der Wand, der schon fast blind war. Er war über dem schmalen Waschbecken angebracht worden. Miranda trat dicht an das Becken heran, drückte ihren Kopf vor, um das Gesicht so gut wie möglich zu sehen.
Sie sah sich, und sie sah, was tatsächlich mit ihr passiert war. Die
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