Das Legat der Toten
hatte das Fernlicht eingeschaltet. Wir fuhren jetzt auf einer normalen Straße und waren froh darüber, daß kein Gegenverkehr herrschte. Hierher verirrte sich selten jemand.
Booker war ein Wiederkehrer. Er war jemand, der nicht hatte sterben können. Der seine Kraft aus dem Ursprung schöpfte, und da wollte mir der Begriff Kreatur der Finsternis nicht aus dem Kopf.
Vor uns lag die erste Ortschaft. Wie sie hieß, wußte ich nicht. Ich hatte auch keine Lust, auf der Karte nachzuschauen. Ein Dorf mit einer Kirche, die ziemlich am Anfang stand, aber auch von der Straße entfernt. Sie wurde nicht angestrahlt, nur in ihrer Nähe leuchtete eine einsame Lampe, und hinter der Kirche waren die Fenster in einem Haus erleuchtet. Wahrscheinlich lebte dort der Pfarrer.
»Er haßt sie, John.«
»Was meinst du?«
»Die Kirchen!«
»Sicher.« Ich schaute wieder hin. »Aber die wird er sich später vornehmen. Er wird es erst mit ihren Vertretern versuchen und dann die Gotteshäuser ausbrennen.« Ich schüttelte den Kopf. »Ein Wahnsinn ist das. Booker hat es schon vor hundert Jahren versucht, und er ist der Meinung, daß sich die Zeiten nicht verändert haben. Das kann einfach nicht gutgehen.«
»Oder gerade. Die Menschen denken heute anders, John. Sie haben mit den Kräften nichts im Sinn, die sie...« Suko sprach nicht mehr. Statt dessen drang ein Fluch über seine Lippen, und plötzlich trat er auf das Bremspedal.
Es hatte seinen Grund. Von der linken Seite her war die Person gekommen wie ein Gespenst. Sie schien herangeflogen zu sein, aber es war keine erwachsene Person, sondern ein Kind.
Ein Mädchen, das in seiner Panik nicht genau gewußt hatte, wohin es laufen sollte. Das Fernlicht hatte die Kleine geblendet.
Sie stand da wie eine Puppe, aber sie hatte die Arme nicht schützend vor ihre Augen gelegt, sondern in die Höhe gerissen.
In Sekundenbruchteilen schossen mir zahlreiche Gedanken durch den Kopf. Ein Kind rannte nicht grundlos durch die Finsternis. Vor allen Dingen keines, das aussah, als wären tausend Teufel hinter ihm her. Ich brachte das Auftauchen des Mädchens automatisch mit Booker und dem Legat der Toten in Zusammenhang. Dieses Kind war nur noch von Angst und Panik erfüllt.
Wir standen längst.
Ich stieß die Tür auf und sprang aus dem Golf. Suko ließ sich noch mehr Zeit. Kaum hatte ich den ersten Fuß ins Freie gesetzt, da hörte ich schon das Weinen der Kleinen. Sie stand noch immer im Licht, aber Suko hatte das Fernlicht gelöscht. Jetzt strahlte nur das Abblendlicht.
Sie sah mich, und als ich sie anfaßte, begann sie zu schreien. Es tat mir selbst weh, als ich sie schreien hörte. Sie schüttelte sich auch unter meinem Griff, aber sie rannte nicht weg. Das Licht war hell genug, um die Angst in ihren Augen zu sehen. Sie weinte, sie jammerte, es war ein Gefühlsausbruch, der mich betroffen machte.
»Bitte, wir tun dir nichts. Du mußt keine Angst mehr haben. Du bist jetzt bei uns...«
Ich hatte bewußt in der Mehrzahl gesprochen, obwohl Suko nicht eingriff und am Golf geblieben war.
Sie hörte nicht, aber sie faßte trotzdem zu mir Vertrauen und lehnte sich gegen mich. Das Kind zitterte.
Noch immer rannen die Tränen. Ich war in die Hocke gegangen und streichelte den Rücken des Mädchens.
»Es wird alles wieder gut«, sagte ich. »Du mußt uns jetzt nur sagen, wo du herkommst, dann bringen wir dich zu deinen Eltern zurück. Alles verstanden?«
Ich hatte wohl etwas Falsches gesagt, denn sie begann noch stärker zu weinen. Das war nicht gespielt, es kam aus dem tiefsten Herzen. Irgendein Ereignis mußte dieses Kind schrecklich erschüttert haben.
Ich wollte mit ihr nicht im Licht bleiben und erhob mich. Beide zogen wir uns zurück, und die Kleine folgte mir auch. Wir gerieten aus dem Licht, und an der Beifahrerseite blieben wir stehen.
Das laute jammervolle Weinen war in ein Schluchzen übergegangen, das ihren Körper durchschüttelte. Ein verquollenes Gesicht, ein offener Mund, der zuckte und wahrscheinlich etwas sagen wollte, obwohl er es nicht konnte.
»Bitte, du mußt dich jetzt beruhigen, Kind. Wir wollen dir wirklich nur helfen.«
Sie schaute mich an.
»Wie heißt du?«
»Susan.«
»Gut, ich bin John. Und der Mann, der da etwas entfernt steht, heißt Suko und ist mein Freund.«
Sie sagte nichts mehr.
»Warum bist du gerannt, Susan? Was hast du erlebt? Welchen Grund hat es gegeben?«
»Ich hatte Angst.«
»Vor deinen Eltern?«
»Nein, meine Mutter ist nicht da. Ich... ich
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