Das letzte Buch
gelesen.«
»Welches Buch haben Sie als Letztes gelesen?«
Der Oberkommissar dachte ein wenig nach und schüttelte dann den Kopf.
»Jetzt haben Sie mich überrumpelt, aber es wird mir schon noch einfallen.«
»Haben Sie ›Der Name der Rose‹ gelesen?«
»Bisher nicht, aber es liegt auf meinem Nachttisch.«
»Solange es da liegt, sind Sie sicher.«
Er sah mich einige Augenblicke zweifelnd an.
»Wir werden doch wohl nicht den Leuten empfehlen, nicht mehr zu lesen?! Wir müssen diesen Fall so schnell wie möglich |167| aufklären! Widmen Sie sich nur dieser Sache. Rechnen Sie mit jeder Hilfe, die Sie brauchen.«
Ich erhob mich aus dem Sessel.
»Danke.«
Als ich das Zimmer des Oberkommissars verließ, sah ich den Kollegen Petronijević. Er kam mir grinsend entgegen.
»Du hast Besuch«, sagte er und zwinkerte mir zu.
Ich schaute ihm kurz nach, als er sich über den Korridor entfernte, und ging rasch in mein Büro.
Ich erkannte sie nicht sofort. Wie hätte ich dazu auch in der Lage sein sollen – ich hatte sie ja noch nie geschminkt gesehen.
|168| 30.
»Fräulein Bogdanović«, sagte ich erstaunt, »was für eine Überraschung!«
Sie saß in einem der beiden Sessel an dem runden Tischchen gegenüber unseren Schreibtischen. Obwohl sie keinesfalls so übertrieben
hatte wie Fräulein Vidić, wirkte in ihrem nicht an Schminke gewöhnten Gesicht das Wenige, was sie aufgetragen hatte, dennoch
auffällig.
»Ich hoffe, eine angenehme«, sagte sie und streckte mir die Hand entgegen.
Ich erwartete einen laschen Händedruck, doch ich täuschte mich. Sie ergriff fest meine Hand und hielt sie etwas länger, als
es normalerweise angebracht war. Als sie mich wieder losgelassen hatte, nahm ich auf meinem Stuhl Platz.
»Angenehm, natürlich. Es gibt keinen Polizisten, der sich nicht freut, wenn ihn eine schöne Dame besucht.«
Die Schminke war nicht das einzig Neue an ihr. Ich merke mir nie, wie eine Frau ihre Haare trägt, aber jedenfalls hatte sie
nicht diese Frisur, mit der ich sie bisher gesehen hatte. Die Haare waren nicht mehr glatt, sondern sanft gewellt, nicht mehr
so schwarz und irgendwie fülliger. Statt der Riesenbrille trug sie wahrscheinlich Haftschalen, und ihre schmalen Lippen wirkten
nun voller.
Auch ihre Kleidung hatte sich verändert. Zwar hatte sie auch jetzt ein Kostüm an, aber nicht das dunkle Dienstkostüm, sondern
ein hellblaues, flatterndes, Ton in Ton mit der |169| Bluse, deren oberste Knöpfe nicht geschlossen waren. Sie passte eher in ein heiteres Frühlingsambiente als in das Grau eines
weiteren verregneten Herbsttags. Schließlich machten die Absätze sie auch größer und schlanker.
Ich lächelte.
»Eine schöne Dame? Von Ihnen habe ich kein Kompliment erwartet.«
»Weshalb nicht? Sie haben es mehr als verdient. Sie sehen heute sehr nett aus.«
»Danke. Ich dachte, Sie würden es nicht bemerken.«
»Weshalb nicht?«
»Schaut ein verliebter Mann etwa andere Frauen an?«
»Auch verliebte Männer bemerken Frauen, die sich bemühen, bemerkt zu werden.«
»Womöglich würde es Vera nicht gefallen, das zu hören.«
»Es gibt keinen Grund, warum es ihr nicht gefallen sollte. Im Übrigen bin ich überzeugt, dass es auch ihr nicht entgehen wird,
wie Sie sich verändert haben.«
»Vielleicht doch.«
»Sie müsste blind sein, wenn sie es nicht sähe.«
»Sie ist auch blind.«
Kopfschüttelnd starrte ich Fräulein Bogdanović an.
»Ich verstehe nicht.«
»Sie ist farbenblind. Vera leidet an Dyschromasie.«
»Ach, in diesem Sinne.«
»Für sie sind alle Farben an mir nur Nuancen von Grau. Sie wussten nichts von ihrem Defekt?«
»Nein.«
»Auch Vera ist nicht so vollkommen, wie sie Ihnen erscheint.«
»Ich bezweifle, dass es ihr gefallen würde zu hören, wie Sie ihre Mängel aufdecken.«
Ein verbaler Streit zwischen uns schien unausweichlich, doch als sie weitersprach, war ihr Ton versöhnlich.
|170| »Ich bin nicht wegen Vera hier. Ich bin gekommen, um Ihnen etwas zu erzählen.«
Ich wartete einige Augenblicke, ob sie fortfahren würde, doch sie sah mich nur an.
»Und was?«, fragte ich, um die unangenehme Stille zu durchbrechen.
»Meinen Traum.«
Nun blickte auch ich sie wortlos an.
»Glauben Sie an Träume?«
»In welchem Sinne?«
»Na, dass sie uns etwas Wichtiges mitteilen.«
Ich zuckte die Schultern.
»Meine Träume sind meistens verworren.«
»So ist jeder Traum. Aber unter der scheinbaren Verworrenheit verbirgt sich häufig ein
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