Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen
der König jeden sehen konnte, der die Straße entlangkam, aber es hatte keinen Graben und keine gepanzerten Wachen, und auf den Mauern wehte nur ein Banner. Es war blau, mit einem weißen Einhorn drauf. Sonst nichts.
Ich war enttäuscht. Ich versuchte, es nicht zu zeigen, aber Molly merkte es. »Du hast dir eine Festung vorgestellt«, sagte sie sanft zu mir. »Du hast düstere Steintürme erwartet, Fahnen, Kanonen und Ritter, Trompeter, die von den Zinnen blasen. Tut mir leid. Wo es doch dein erstes Schloss ist und überhaupt.«
»Nein, es ist ein hübsches Schloss«, sagte ich. Und es war wirklich hübsch, wie es so friedlich auf seinem Hügel stand, in der Sonne, inmitten all der Wildblumen. Da war ein Markt, das konnte ich jetzt erkennen, und da waren Hütten wie unsere, direkt an die Mauer geschmiegt, damit die Leute im Notfall drinnen Schutz suchen konnten. Ich sagte: »Wenn man es nur sieht, merkt man schon, dass der König ein netter Mann ist.«
Molly guckte mich an, den Kopf ein bisschen schiefgelegt. Sie sagte: »Er ist ein Held, Sooz. Vergiss das nicht, was du auch siehst, was du auch denkst. Lír ist ein Held.«
»Ach, das weiß ich«, sagte ich. »Ich bin sicher, er wird mir helfen. Ganz sicher.«
Aber ich war’s nicht. Sobald ich dieses nette, freundliche Schloss sah, war ich mir kein bisschen sicher.
Reinzukommen war kein Problem. Das Tor ging einfach auf, als Schmendrick einmal anklopfte, und er und Molly und ich marschierten hinein, mitten durch den Markt, wo Leute Obst und Gemüse aller Art verkauften und Töpfe und Pfannen und Kleider, genau wie bei uns im Dorf. Alle riefen uns zu, wir sollten an ihren Stand kommen und Sachen kaufen, aber niemand hinderte uns, ins Schloss zu gehen. An der großen, zweiflügligen Tür standen zwei Männer, und die fragten uns jetzt doch, wer wir seien und warum wir zu König Lír wollten. Sobald Schmendrick seinen Namen sagte, traten sie schnell beiseite und ließen uns durch, und da dachte ich, dass er ja vielleicht ein richtig berühmter Zauberer war, auch wenn ich noch nicht mehr mitgekriegt hatte als kleine Tricks und Liedchen. Die Männer erboten sich nicht, ihn zum König zu bringen, und er bat nicht drum.
Molly hatte recht. Ich hatte erwartet, dass das Schloss ganz kalt und düster sein würde, mit Königinnen, die uns schief anguckten, und hünenhaften Männern, die in ihren Rüstungen an uns vorbeiklirrten. Aber die Gänge, durch die wir Schmendrick folgten, waren voller Sonnenlicht, das durch hohe, längliche Fenster fiel, und die meisten Leute, die wir sahen, nickten uns lächelnd zu. Wir kamen an einer Steintreppe vorbei, die sich in die Höhe wand und außer Sicht verschwand, und ich war mir sicher, dass der König dort oben wohnte, aber Schmendrick guckte nicht mal hin. Er führte uns geradewegs durch die große Halle – die hatte eine Feuerstelle, so groß, dass man drei Kühe auf einmal braten konnte! – und weiter, vorbei an den Küchen und der Spül- und der Waschküche, zu einem Raum unter einer anderen Treppe. Da war es wirklich finster. Man hätte die Tür nicht gefunden, wenn man nicht gewusst hätte, wo man suchen musste. Schmendrick klopfte nicht an und sagte auch keine Zauberworte, damit die Tür aufging. Er blieb einfach nur davor stehen und wartete, und schließlich öffnete sie sich mit Gerassel, und wir gingen rein.
Drinnen war der König. Ganz allein war er dort drinnen.
Er saß auf einem gewöhnlichen Holzstuhl, keinem Thron. Der Raum war wirklich klein, so groß wie die Webstube meiner Mutter, vielleicht wirkte der König ja deshalb so mächtig. Er war so groß wie Schmendrick, erschien mir aber so viel breiter. Ich hatte ihn mir wohl mit einem langen Bart vorgestellt, der über seine ganze Brust reichte, aber er hatte nur einen kurzen, so wie mein Vater, bloß weiß. Er trug einen rot-goldenen Umhang, und auf seinem weißen Haupt saß eine echte Goldkrone, nicht viel breiter als die Kränze, die wir am Ende des Jahres unseren preisgekrönten Widdern aufsetzen. Er hatte ein nettes Gesicht mit einer großen Nase und große blaue Augen wie ein kleiner Junge. Aber seine Augen waren so müde, mit so schweren Lidern, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie er sie offen hielt. Manchmal hielt er sie auch nicht offen. Sonst war da nichts in dem kleinen Raum, und er guckte uns drei an, als ob er wüsste, dass er uns kannte, nur nicht woher. Er versuchte zu lächeln.
Schmendrick sagte ganz sanft: »Majestät, wir sind’s,
Weitere Kostenlose Bücher