Das letzte Einhorn
so rostig und brüchig waren wie ihre Helme und Harnische. »Nicht Prinz Lir«, rief der dritte Mann. »Der Prinz mag tausend Drachen töten, doch ein Schloss wird er nie zerstören, nie einen König stürzen. Das liegt einfach nicht in seiner Natur. Es ist ein pflichtbewusster Sohn, der – leider – nichts anderes im Sinne hat, als sich des Mannes würdig zu erweisen, den er seinen Vater nennt. Der Vers muss sich auf jemand anderen beziehen, nicht auf Lir.«
»Und selbst wenn Lir derjenige wäre«, fügte der zweite Mann hinzu, »selbst wenn ihn dieser Fluch zu seinem Vollstrecker bestimmt hätte, so müsste er dennoch scheitern. Denn zwischen Haggard und dem Untergang steht der Rote Stier.« Ein Schweigen sprang in den Raum, verdunkelte mit seinem grauenvollen Schatten alle Gesichter, kühlte mit seinem Hauch die heiße Suppe. Die klein. gestromte Katze in Mollys Schoß hörte zu schnurren auf, das flackernde Küchenfeuer duckte sich. Die kalten Küchenwände schienen sich zusammenzuziehen.
Der vierte Krieger, der bisher nicht gesprochen hatte, rief Molly durch die Dunkelheit zu: »Das ist der wahre Grund, weshalb wir in Haggards Diensten bleiben. Er will nicht, dass wir gehen, und was König Haggard will oder nicht will, das ist des Roten Stieres einzige Sorge. Wir sind Haggards Diener – und des Roten Stieres Gefangene!«
Molly streichelte mit steter Hand die Katze, doch ihre Stimme klang gedrückt und trocken. »Was bedeutet denn der Rote Stier für König Haggard?«
»Das wissen wir nicht«, erwiderte der älteste der Wächter, »der Stier ist immer hier gewesen; er dient Haggard als Armee und Bollwerk, er ist sein starker Arm und die Quelle seiner Macht. Er ist wohl auch sein einziger Gefährte, denn ich weiß, dass er vor Tag und Tau über eine geheime Treppe zu seiner Höhle hinabstieg. Doch ob er Haggard aus freien Stücken oder unter Zwang gehorcht, ob der Stier oder Haggard der wahre Herrscher ist – das wissen wir nicht.«
Der vierte und jüngste der Männer beugte sich zu Molly Grue, seine feuchten, rosa Augen voll Eifer. »Der Rote Stier ist ein Dämon! Der Preis, den er eines Tages für seine Dienste bei Haggard fordern wird, das wird Haggard selber sein!« Ein anderer fiel ihm ins Wort, bestand darauf, es sei ganz sonnenklar, der Stier sei Haggards verhexter Sklave und bleibe es, bis er eines Tages den Zauberbann bräche und seinen Herrn vernichtete. Sie fingen zu streiten an und verschütteten die Suppe.
Molly fragte, nicht laut, aber auf eine Weise, die alle verstummen ließ- »Wisst ihr, was ein Einhorn ist? Habt ihr jemals eines gesehen?«
Von allen lebenden Wesen im Raum schienen nur die Katze und das Schweigen sie mit irgendeinem Verständnis anzusehen. Die vier Krieger blinzelten und rülpsten, rieben sich die Augen. Tief drunten regte sich wieder ruhelos der Stier.
Nach dem Essen verabschiedeten sich die vier Männer und verließen die Küche, zwei in Richtung Bett, zwei in Richtung Turm, um ihre Nachtwache im Regen anzutreten. Der Älteste wartete, bis die anderen fort waren, dann sagte er leise zu Molly: »Hüte dich vor der Lady Amalthea. Als sie hierherkam, da war ihre Schönheit so groß, dass selbst dieses verfluchte Schloss schön ward. Wie der Mond, der ja nur ein beglänzter Felsen ist. Doch sie ist zu lange hier gewesen; sie ist heute so schön wie je, doch Haus und Hof sind ihretwegen hässlicher geworden.«. Er stieß einen langen Seufzer aus, der in ein Winseln überging. »Mit dieser Art von Schönheit bin ich vertraut, doch jene andere hab’ ich noch nie zuvor gesehen. Hüte dich vor ihr. Sie sollte diesen Ort verlassen!«
Als sie allein war, barg Molly ihr Gesicht in dem spärlichen Fell der Katze. Das Herdfeuer brannte herunter, doch sie legte kein Holz nach. Flinke Tierchen trippelten durch den Raum, machten ein Geräusch wie Haggards Stimme. Der Regen rauschte und prasselte gegen die Schloßmauern, tönte wie der Rote Stier. Wie als Antwort darauf hörte sie den Stier, sein Gebrüll ließ die Steine unter ihr erbeben, sie musste sich am Tisch festhalten, um nicht zusammen mit der Katze zu Boden zu fallen. Sie schrie auf.
Die Katze sagte: »Er verlässt seine Höhle. Er geht jeden Tag bei Sonnenuntergang hinaus, um das seltsame weiße Tier zu jagen, das ihm entkommen ist. Das weißt du ganz genau. Stell dich nicht so dumm!«
Das hungrige Brüllen ertönte wieder, weiter weg. Molly starrte die Katze an; sie war nicht so verblüfft, wie es andere gewesen
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