Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das letzte Einhorn

Das letzte Einhorn

Titel: Das letzte Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
Vom Netzwerk:
König Haggards vier Soldaten marschierten in die Küche herein.
     
    Sie waren alle mindestens siebzig Jahre alt, dünn und lahm, zerbrechlich wie Schneekrusten, obgleich sie von Kopf bis Fuß in jämmerlichen Rüstungen staken und verbeulte Waffen trugen. Beim Eintreten grüßten sie fröhlich Molly Grue, fragten, was es zum Abendessen gebe; beim Anblick der Lady Amalthea verstummten sie, verbeugten sich vor ihr so tief, dass sie keuchten.
    »Meine Lady«, sprach der älteste von ihnen, »befiehl deinen Dienern. Wir sind verbrauchte, nutzlose Männer, doch wenn du Wunder sehen willst, dann brauchst du nur von uns das Unmögliche zu verlangen. Wir werden wieder jung, wenn du es wünscht.« Seine drei Kameraden murmelten zustimmend.
    Doch die Lady Amalthea flüsterte: »Nein, ihr werdet niemals wieder jung sein!« Dann lief sie hinaus, ihr wirres leuchtendes Haar verbarg ihr Gesicht, das Satingewand raschelte und rauschte.
    »Wie weise sie ist«, rief der älteste Wächter. »Sie weiß, dass selbst ihre Schönheit die Zeit nicht besiegen kann. Eine seltene und traurige Weisheit für jemanden, der so jung ist. Die Suppe duftet köstlich, Molly.«
    »Viel zu gut für diesen Ort«, brummte ein anderer Krieger, als sie rings um den Tisch saßen. »Haggard hasst gutes Essen. Er sagt, kein Mahl sei gut genug, um das ganze Geld und die ganze Anstrengung zu rechtfertigen, die man bei der Zubereitung verschwende. ›Es ist eine Illusion‹, sagte er, ›und eine Ausgabe. Lebt wie ich: ohne Täuschungen!‹ Brrh!« Er schauderte und schnitt eine Grimasse. Die anderen lachten. »Leben wie Haggard«, sagte ein dritter, während Molly dampfende Suppe in seinen Napf schöpfte, »das wird in der nächsten Welt mein Los sein, wenn ich mich in dieser nicht bessere.«
    »Warum bleibt ihr nur in seinen Diensten?« forschte Molly. Sie setzte sich zu ihnen, stützte ihr Kinn auf die Hände. »Er gibt euch keinen Lohn und gerade so viel zu essen, dass ihr nicht verhungert. Er schickt euch bei Nacht und Regen hinaus, um in Hagsgate für ihn zu stehlen, denn von den Reichtümern in seiner Schatzkammer gibt er keinen Heller aus. Er verbietet alles, Lichter und Lauten, Feuer und Feste, Singen und Sündigen; verbietet alles – von Lesen, Rauchen, Trinken viel bis Murmeln, Klatsch und Kartenspiel. Warum bleibt ihr nur? Was in der Welt hält euch denn hier?«
    Die vier Männer sahen einander unsicher und aufgeregt an, sie husteten und ächzten. Der Älteste meinte: »Es ist unser Alter. Wohin könnten wir denn gehen? Wir sind zu alt, um noch auf Wanderschaft zu gehen, um nach Arbeit und Unterkunft Ausschau zu halten.«
    »Es ist unser Alter«, sagte der zweite. »Wenn man alt ist, dann kommt einem alles, was einen nicht stört, wie eine Erquickung vor. Kälte, Dunkel und Langeweile, sie haben ihre scharfen Kanten für uns vor langer Zeit verloren, doch Wärme, Frühling, Gesang sind nur noch Störungen für uns. Es gibt Schlimmeres, als so wie Haggard leben zu müssen.«
    Der dritte Mann sagte: »Haggard ist älter als wir. Eines Tages wird Prinz Lir König in diesem Reiche sein, und ich werde von dieser Welt nicht Abschied nehmen, bis ich diesen Tag erlebt habe. Ich habe den Jungen immer gern gehabt, seit er ein Kind war.«
    Molly stellte fest, dass sie keinen Hunger hatte. Sie blickte in die Gesichter der alten Männer und lauschte den Geräuschen, die ihre gefurchten Lippen und verschrumpelten Kehlen machten, als sie die Suppe schlürften. Sie war froh, dass Haggard seine Mahlzeiten immer allein zu sich nahm – Molly gewann unvermeidlich jeden lieb, für den sie kochte.
    Vorsichtig fragte sie: »Habt ihr je die Geschichte gehört, dass Prinz Lir gar nicht Haggards adoptierter Neffe ist?« Die vier Krieger zeigten nicht die geringste Überraschung bei dieser Frage.
    »Ach«, antwortete der Älteste, »diese Geschichte kennen wir längst. Sie mag wohl wahr sein, denn der Prinz besitzt wahrlich keine Ähnlichkeit mit dem König. Doch was soll’s? Besser, ein gestohlener Fremder regiert uns, als König Haggards leiblicher Sohn.«
    »Doch wenn der Prinz aus Hagsgate stammt«, rief Molly, »dann ist er derjenige, der den auf dem Schloss lastenden Fluch erfüllen wird!« Sie wiederholte den Vers, den der Mann Drinn im Wirtshaus zu Hagsgate aufgesagt hatte:
     
    Nur Einem aus Hagsgate wird es gelingen,
    das Schloss zu zerstören, zum Einsturz zu bringen.
     
    Doch die alten Männer schüttelten nur die Köpfe, bleckten grinsend Zähne, die genau

Weitere Kostenlose Bücher