Das letzte Einhorn
goldgesprenkelt.
»Aber das ist lange her«, sagte das Mädchen. »Jetzt bin ich gespalten, bin ich selbst, und jene andere, die du ›meine Lady‹ nennst. Denn diese ist genau so wirklich und wahrhaftig hier, wie ich es bin, obwohl sie früher nur wie ein Schleier war. Sie geht durch das Schloss, sie schläft, kleidet sich an, isst, denkt ihre eigenen Gedanken. Zwar hat sie nicht die Kraft zu heilen oder zu beruhigen, doch besitzt sie einen anderen Zauber. Männer sprechen mit ihr, nennen sie ›Lady Amalthea‹, und sie antwortet ihnen, oder sie antwortet ihnen nicht. Der König beobachtet sie unablässig aus seinen blassen Augen, zerbricht sich den Kopf, was sie wohl sei, und des Königs Sohn quält sich mit seiner Liebe zu ihr und zerbricht sich den Kopf, wer sie wohl sei. Jeden Tag sucht sie am Himmel und auf dem Meer, im Schloss und im Hof, im Burgverlies und in des Königs Gesicht nach etwas, woran sie sich nicht immer erinnern kann. Was sucht sie nur an diesem seltsamen Ort? Vor einem Augenblick wusste sie es. aber jetzt hat sie es vergessen.« Sie wandte ihr Gesicht Molly Grue zu, ihre Augen waren nicht mehr die des Einhorns. Sie waren immer noch sehr schön, aber auf eine Art, die einen Namen trägt, waren schön, wie eine sterbliche Frau schön ist. Die Tiefe ihrer Augen war auslotbar, der Grad ihrer Dunkelheit beschreibbar. Molly sah Furcht, Verlorenheit und Verwirrung in ihnen, und sich selbst. Sonst nichts.
»Einhörner«, sagte sie. »Der Rote Stier hat sie alle zusammengetrieben, alle außer dir. Du bist das letzte Einhorn. Du bist hierhergekommen, um die anderen zu finden – und sie zu befreien –, und das wirst du auch.«
Allmählich kehrte die tiefe, geheimnisvolle See in die Augen der Lady Amalthea zurück, füllte sie, bis sie so alt und tief und unergründlich waren wie das Meer. Molly sah es, und es machte ihr Angst, doch dann packte sie die gesenkten Schultern noch fester, als könnten ihre Hände wie ein Blitzableiter Verzweiflung auffangen. Während sie die Lady Amalthea so hielt, erzitterte unter ihnen der Küchenboden mit einem Laut, den sie schon einmal gehört hatte, mit einem Laut, wie ihn gewaltige Zähne, Backenzähne, hervorbringen, wenn sie aufeinander mahlen. Der Rote Stier drehte sich im Schlaf um. ›Ob er wohl träumt?‹ dachte Molly.
Die Lady Amalthea sagte: »Ich muss zu ihm. Es gibt keinen anderen Weg, und ich darf keine Zeit verlieren. In dieser Gestalt oder in meiner eigenen, ich muss mich ihm stellen, auch wenn alle meine Gefährten tot sind und es nichts zu retten gibt. Ich muss zu ihm, bevor ich mich für immer vergessen habe. Doch ich kenne den Weg nicht, und ich bin so allein.« Die kleine Katze ringelte ihren Schwanz, gab einen Laut von sich, der weder Miauen noch Schnurren war.
»Ich werde mit dir gehen«, sagte Molly. »Ich weiß zwar den Weg zum Stier hinab so wenig wie du, aber es muss einen geben. Schmendrick wird mit uns gehen, er findet den Weg, wenn wir versagen.«
»Von dem Zauberer erhoffe ich kein Hilfe«, erwiderte die Lady Amalthea verächtlich. »Ich sehe ihn tagein, tagaus für König Haggard den Narren spielen, sehe, wie Haggard sich an seinem Missgeschick weidet, an seinem Versagen bei den allereinfachsten Zauberstücken. Er sagt wohl, es könne ihm nicht besser gelingen, bevor seine Zaubermacht wieder in ihm spräche, doch sie wird es niemals wieder tun. Er ist kein Magier mehr, sondern des Königs Harlekin.«
Mollys Gesicht schmerzte plötzlich, sie wandte sich ab, um wieder nach der Suppe zu sehen. Mühsam unterdrückte sie eine scharfe Antwort, sagte statt dessen: »Er tut es für dich. Während du vor dich hinbrütest und schwermütig herumsitzt und dich veränderst, spielt er für Haggard den Hanswurst, um ihn abzulenken – damit du Zeit hast, deine Gefährten zu finden, sofern das möglich ist. Es dauert nicht mehr lange, dann wird der König seiner überdrüssig werden und ihn in seine Verliese werfen, oder in einen noch dunkleren Raum. Du tust Unrecht, wenn du ihn verspottest.«
Ihre Stimme klang wie eines Kindes dünnes, klägliches Greinen. »Dir wird so was nie passieren, dich lieben ja alle.«
Einen Moment lang musterten sich die beiden Frauen, die eine fein und fremd in dem niedrigen kalten Raum, die andere – zu Hause in dieser Umgebung – ein zorniger kleiner Käfer von eigentümlicher Küchenschönheit. Dann hörten sie das Scharren von Stiefeln, das Klirren von Rüstungen und das Husten und Keuchen alter Männer:
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