Das letzte Einhorn
wären; in diesen Tagen war sie ungleich schwerer zu überraschen als die meisten Frauen. »Hast du schon immer sprechen können?« fragte sie. »Oder hat dir der Anblick der Lady Amalthea die Sprache verliehen?«
Die Katze leckte nachdenklich an einer Vorderpfote. »Es war ihr Anblick, der in mir den Wunsch zu sprechen erweckte«, sagte sie nach einiger Zeit. »Dabei wollen wir’s bewenden lassen. Selbst für ein Einhorn ist sie sehr schön .«
»Woher weißt du, dass sie ein Einhorn ist?« fragte Molly. »Und warum hast du solche Angst vor ihrer Berührung gehabt? Ich habe deine Angst deutlich gesehen!«
»Ich bezweifle, dass mir sehr lange zum Sprechen zumute sein wird«, erwiderte die Katze ohne Groll. »An deiner Stelle würde ich keine Zeit für solche Torheiten verschwenden. Was deine erste Frage angeht, so lässt sich keine Katze, die aus ihrem ersten Fell heraus ist, jemals durch Äußerlichkeiten täuschen. Ganz im Gegensatz zu den Menschen, die ihre Freude daran haben. Was deine zweite Frage betrifft …«, hier stockte sie, konzentrierte ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, sich den Pelz zu waschen; sie leckte sich flauschig, und dann leckte sie sich wieder glatt, beäugte angelegentlich ihre Krallen.
»Hätte sie mich berührt«, sagte sie sehr leise, »dann hätte ich ihr gehört und niemals wieder mir selbst. Ich wollte, dass sie mich anfasste, aber ich brachte es nicht über mich. Keine Katze vermag das. Wir dulden, dass die Menschen uns liebkosen, denn es ist recht angenehm – und es beruhigt sie. Aber von ihr gestreichelt zu werden, der Preis dafür ist höher, als irgendeine Katze bezahlen kann.« Da hob Molly sie auf, und sie schnurrte, an ihren Hals gepresst, so lange, dass sie schon fürchtete, die Katze würde nie wieder reden. Doch dann sagte sie: »Ihr habt sehr wenig Zeit. Bald wird sie sich nicht mehr erinnern, wer sie ist oder warum sie hierher gekommen ist, und der Rote Stier wird des Nachts nicht mehr nach ihr brüllen. Vielleicht wird sie den guten Prinzen heiraten, der sie liebt.« Die Katze stieß ihren Kopf auffordernd gegen Mollys plötzlich stille Hand. »Nur zu!–« befahl sie. »Der Prinz ist sehr tapfer, ein Einhorn zu lieben. Katzen schätzen kühne Toren!«
»Nein, nein, das kann sie nicht. Sie ist das letzte Einhorn.«
»Nun, dann muss sie vollenden, was sie hierhergeführt hat. Sie muss den gleichen Weg zum Stier hinuntergehen, den auch der König geht.«
Molly presste sie so fest an sich, dass die Katze ein mausartiges Quieken des Protestes von sich gab. »Kennst du diesen Weg?« fragte sie so ungestüm, wie es Prinz Lir von ihr hatte wissen wollen. »Zeig ihn mir, sag mir, wohin wir gehen müssen.« Sie setzte die Katze auf den Tisch und ließ sie los.
Die Katze blieb lange Zeit stumm, doch ihre Augen wurden heller und heller, Gold rieselte herab, bedeckte das Grün. Ihr verkrümmtes Ohr zuckte und die schwarze Schwanzspitze, sonst nichts.
»Wenn der Wein sich selber trinkt, wenn der Schädel spricht, wenn die Uhr die Stunde schlägt, nur dann findet ihr den Gang zum Stier.« Sie zog ihre Pfoten unter die Brust und setzte hinzu: »Natürlich ist ein Trick dabei!«
»Und ob!« fauchte Molly. »Auf einem Pfeiler in der großen Halle steht so ein schrecklicher, bröseliger Totenkopf, aber es ist schon eine Weile her, dass der was gesagt hat. Die Uhr, die in der Nähe steht, ist verrückt, sie schlägt die Stunden, wie es ihr gerade passt, Mitternacht zu jeder Stunde, fünf Uhr nachmittags um vier Uhr in der Früh’, dann wochenlang keinen einzigen Schlag. Und dann der Wein – o Kätzchen, wäre es nicht einfacher, du zeigtest mir den Gang? Du weißt doch, wo er ist, nicht wahr?«
»Natürlich weiß ich das«, antwortete die Katze und gähnte schimmernd und sperrangelweit. »Natürlich wäre es viel einfacher, wenn ich euch den Weg zeigte; ersparte euch eine Menge Zeit und Ärger!«
Ihre Stimme fiel zu einem schläfrigen, schleppenden Maunzen ab, und Molly merkte, dass die Katze, genau wie Haggard, das Interesse verlor. Rasch fragte sie: »Sag mir wenigstens noch eines: Was wird aus den Einhörnern? Wo sind sie?«
Die Katze gähnte wieder. »Nah und fern, fern und nah«, schnurrte sie. »Sie sind in Augenweite deiner Herrin, doch fast schon außerhalb ihres Erinnerungsvermögens. Sie nähern sich, und sie verschwinden wieder.« Sie schloss ihre Augen. Mollys Stimme klang, als zupfte man ein sehr straffes Seil. »Der Teufel soll dich holen! Warum hilfst du mir
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