Das letzte Einhorn
gewusst. Wie [rast du übrigens diese Verwandlung zuwege gebracht? Dein Zauberer kann es nicht gewesen sein; ich glaube nicht, dass er aus einem Ei ein Omelett machen könnte.«
Ohne den Halt an der Brüstung wäre sie zu Boden gesunken, doch so antwortete sie ihm gelassen: »Mein Gebieter, ich verstehe dich nicht. Ich sehe nicht das Geringste im Wasser.«
Das Gesicht des Königs zitterte verschwommen, als blickte sie ihn durch ein Feuer hindurch an. »Verleugnest du dich immer noch?« flüsterte er. »Wagst du es, dich selbst zu verleugnen? Pfui, das ist so falsch und feige, als wärst du wirklich ein Mensch. Ich werde dich mit diesen meinen Händen zu deinen Gefährten hinunterwerfen, wenn du dich weiter verleugnest!« Er machte einen Schritt auf sie zu, sie sah ihm mit aufgerissenen Augen zu, keiner Bewegung fähig.
Das Tosen des Meeres, Prinz Lirs Gesang und der Todesschrei des Mannes Rukh. gellten in ihren Ohren. König Haggards graues Gesicht hing wie ein Hammer über ihr. »Es muss so sein«, murmelte er, »ich kann mich nicht irren. Doch ihre Augen sind so töricht wie die seinen, wie alle Augen, die nie ein Einhorn erblickten, Augen, die in einem Spiegel nie etwas anderes sehen als, sich selbst. Was für ein Trug ist das? Wie kann das sein? In ihren Augen sind keine grünen Blätter zu sehen!« Da schloss sie ihre Augen, doch sperrte sie mehr ein als aus. Die bronzeflüglige Kreatur mit dem Hexengesicht schwang vorüber, lachte und plapperte, und de, Schmetterling legte die Flügel an, um zuzustoßen. Der Rote Stier trabte geräuschlos durch den Wald und stieß mit seinen fahlen Hörnern die Zweige beiseite. Si spürte, dass König Haggard sich entfernte, doch sie öffnete ihre Augen nicht.
Viel später, oder einen Augenblick darauf, hörte sie hinter sich des Zauberers Stimme. »Ruhig, ganz ruhig Es ist alles vorbei.« Es war ihr nicht bewusst, dass sie irgendeinen Laut von sich gegeben hatte.
»Im Meer«, sagte er, »im Meer! Mach dir nichts draus. Auch ich habe sie nicht gesehen, weder heute noch zu irgendeiner anderen Zeit, als ich hier oben stand und die einlaufende Flut beobachtete. Doch er hat sie gesehen, und wenn Haggard etwas sieht, dann ist es da!« Er lachte, und sein Lachen klang wie eine ins Holz krachende Axt. »Mach dir nichts daraus. Das hier ist ein Hexenschloß, da fällt es einem schwer, die Dinge richtig zu sehen, vor allem, wenn man lange hier gelebt hat. Es genügt nicht, zum Sehen bereit zu sein, man muss die Augen Tag und Nacht offen halten.« Er lachte wieder, sanfter dieses Mal. »Schon gut. Wir werden sie jetzt finden. Komm, komm mit mir.«
Ihr Mund bewegte sich, formte Worte, doch blieb sie stumm. Der Zauberer betrachtete mit seinen grünen ihr Gesicht genauer. »Dein Gesicht ist feucht«, meinte er besorgt, »ich hoffe, es ist nur Sprüh. Wenn du schon so menschlich geworden wärest, dass du weinen kannst, dann könnte kein Zauber auf dieser Welt – oh, es kann nur Sprüh sein. Komm mit mir. Es muss einfach Sprüh sein!«
In der Schloßhalle schlug die Uhr sechs. In Wirklichkeit war es elf Minuten nach Mitternacht, doch die Halle war kaum dunkler, als sie am Morgen oder zur Mittagszeit war. Die Schloßbewohner lasen die Zeit an den Schattierungen der Dunkelheit ab. Zuweilen war die Halle kalt, weil eben Wärme fehlte, und düster aus Mangel an Licht. Die Luft hing abgestanden und drückend in den Räumen, die Steine stanken nach faulem Wasser, denn es gab kein Fenster, um frischen Wind hereinzulassen. Das war der Tag.
Zur Nacht aber war das Schloss mit Dunkelheit geladen, strömte über davon, so wie es Bäume gibt, die den ganzen Tag mit der Unterseite ihrer Blätter Licht speichern und es nach Sonnenuntergang abgeben. Die kleinen Geräusche, die am Tage schliefen, erwachten jetzt, scharrten und schabten in allen Ecken und Winkeln. Kälte, Finsternis und Fäulnis füllten das Schloss.
»Mach Licht«, sagte Molly Grue. »Bitte, mach Licht!« Schmendrick murmelte etwas Kurzes und Kundiges zunächst geschah nichts, dann breitete sich allmählich eine blasse Helligkeit über den Boden hin aus, verteilte sich in der Halle auf tausend schillernden, huschenden, quiekenden Körpern. Das kleine Nachtgetier erglühte wie Leuchtkäfer, sie schossen in dem Saal umher, brachten mit ihrem kränklichen Licht flackernde Schatten hervor und machten die Finsternis noch kälter als zuvor. »Hättest du’s nur nicht getan«, seufzte Molly. »Kannst du sie nicht wieder abstellen?
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