Das letzte Einhorn
Schmendrick: »Dann löse das Rätsel. Zeig uns den Weg zum Roten Stier.«
»Nein«, erwiderte der Schädel. Dann lachte er wie verrückt.
»Warum denn nicht?« schrie Molly zornig. »Was für ein Spiel …?« Die langen, gelben Kiefer bewegten sich um keinen Deut, doch dauerte es einige Zeit, bis das hässliche Gelächter verschepperte. Sogar das huschende Nachtgetier stand still, verharrte gebannt in seinem zuckrigen Licht, bis das Lachen verstummte. »Ich bin tot«, sprach der Schädel, »ich bin tot und hänge hier in Finsternis, um Haggards Besitz zu bewachen. Das einzige, kleine Vergnügen, das ich noch habe, ist es, die Lebenden zu ärgern und zu tratzen, und dazu habe ich nicht sehr oft Gelegenheit. Höchst bedauerlich, denn im Leben war ich ein Kerl, für den es nichts Schöneres gab, als anderen Ärger zu bereiten. Ihr werdet mir bestimmt verzeihen, wenn ich mit euch ein wenig meine Possen treibe. Versucht es morgen wieder. Vielleicht verrate ich es euch dann.«
»Aber wir haben doch keine Zeit!« flehte Molly. Schmendrick stieß sie in die Rippen, doch sie sprach hastig weiter, trat dicht an den Schädel heran, wandte sich unmittelbar an seine leeren Augen. »Wir haben keine Zeit. Wir sind womöglich jetzt schon zu spät dran!«
»Ich habe Zeit«, erwiderte der Schädel nachdenklich. »Es ist wahrlich nicht gut, Zeit zu haben. Eile, Hast, Verzweiflung, dies versäumt und jenes vergessen, alles außer Rand und Band – so muss das Leben sein! Manchmal muss man einfach zu spät kommen. Macht euch deswegen keine Sorgen.«
Molly hätte weitergebettelt, doch der Zauberer packte ihren Arm und zog sie beiseite. »Still!« fuhr er sie rasch und zornig an. »Kein Wort mehr! Das verfluchte Ding hat gesprochen, oder nicht? Mag sein, das ist alles, was zu des Rätsels Lösung erforderlich ist.«
»Nein, das ist es nicht«, unterrichtete ihn der Schädel. »Ich werde reden, soviel du willst, aber ich werde dir nichts sagen. Das ist recht niederträchtig, nicht? Du hättest mich erst sehen sollen, als ich noch am Leben war!«
Schmendrick schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. »Wo ist der Wein?« wollte er von Molly wissen. »Ich will sehen, was ich mit dem Wein anfangen kann.«
»Ich konnte keinen finden«, antwortete sie nervös. »Ich habe alles durchsucht, doch im ganzen Schloss gibt es keinen einzigen Tropfen.« Der Zauberer blickte sie lange schweigend an. »Ich hab’ getan, was ich konnte«, sagte sie.
Schmendrick hob langsam beide Hände und ließ sie dann wieder fallen. »Das wär’s dann. Wenn wir keinen Wein haben, ist alles aus. Ich bin zwar ein Zauberer, doch aus Luft kann ich keinen Wein machen! Materie kann weder erschaffen noch zerstört werden!« Der Schädel kicherte knirschend und klappernd. »Wenigstens nicht von den meisten Magiern.«
Molly zog aus einer Rockfalte ein Fläschchen, das in der Dunkelheit schwach glänzte. »Ich dachte, wenn du zu Beginn ein bisschen Wasser hättest …« Schmendrick und der Totenkopf sahen sie auf eine unheimlich ähnliche Weise an. »Es ist schon geglückt«, sagte sie laut, »du müsstest ja nichts Neues erschaffen. Das würde ich nie von dir verlangen!«
Während sie sprach, sah sie die Lady Amalthea an, Schmendrick nahm das Flakon aus ihrer Hand und betrachtete es eingehend, drehte es in seinen Händen hin und her und murmelte merkwürdig zarte Worte vor sich hin. Schließlich meinte er: »Weshalb eigentlich nicht? Wie du gesagt hast: es ist ein Trick, der zum Repertoire jedes Zauberers gehört, der etwas auf sich hält. Es gab eine Zeit, in der er sich großer Beliebtheit erfreute, doch heute ist er ein wenig aus der Mode geraten.« Mit einer Hand fuhr er nachdenklich über das Fläschchen, webte ein Wort in die Luft. »Was treibst du da?« fragte der Schädel eifrig. »He, komm näher ran, ich kann ja gar nichts sehen!« Der Zauberer entfernte sich ein paar Schritte, presste das Fläschchen an die Brust und beugte sich darüber. Er begann mit wispernder Stimme ein Lied zu singen, das Molly an die Geräusche erinnerte, die ein Feuer macht, Wenn seine Kohlen schon längst erloschen sind.
»Es ist dir klar«, unterbrach er sich, »dass er nichts Besonderes werden kann. Höchstens vin ordinaire .« Molly nickte gewichtig. »Und gewöhnlich ist er zu süß, Wie ich ihn dazu bringen soll, sich selbst zu trinken, ist mir schleierhaft.« Er setzte seinen Zaubersang fort, noch leiser und sanfter, während der Schädel sich bitterlich beklagte, er könne nicht
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