Das letzte Einhorn
die Nähe der Küste kamen, bogen ihre Rücken höher und höher, sprangen dann so wild an den Strand wie gefangene Tiere, die gegen eine Mauer anspringen und zu Boden fallen und mit einem klagenden Knurren wieder und wieder springen, bis ihre Krallen stumpf werden und brechen. Klagend krächzten die hässlichen Vögel. Die Wellen waren taubengrün und taubenblau, bis sie brachen, dann färbten sie sich wie das Haar, das vor Lady Amaltheas Augen wehte.
»Da!« sagte eine seltsam hohe Stimme neben ihr. »Da sind sie!« König Haggard grinste sie an und wies auf das weiße Wasser hinunter. »Da sind sie.« Er lachte wie ein geängstigtes Kind. »Sie sind da! Sag, sie seien nicht deine Gefährten, sag, du seist nicht auf der Suche nach ihnen hierhergekommen, sag, aus Liebe wärst du einen ganzen Winter in meinem Schloss geblieben!«
Er konnte ihre Antwort nicht abwarten, er musste den Wellen zuschauen. Sein Gesicht hatte sich unglaublich verändert, Entzücken färbte die fahle Haut, glättete die scharfen Knochen, lockerte den wie eine Sehne gespannten Mund. »Sie gehören mir«, sagte er leise, »sie gehören mir ganz allein. Der Rote Stier hat sie für mich eingefangen, eins nach dem anderen, und ich befahl ihm, jedes von ihnen ins Meer zu treiben. Was für einen besseren Ort könnte es geben, um Einhörner zu halten? Welcher andere Käfig könnte sie einschließen? Der Rote Stier bewacht sie, im Wachen wie im Schlafen, denn er hat ihnen den Mut schon vor langer Zeit geraubt, Jetzt leben sie im Meer, und jede Flut bringt sie bis auf einen einzigen Schritt ans Land heran, doch sie wagen es nicht, diesen Schritt zu tun, sie wagen es nicht, aus dem Wasser zu kommen! Sie haben Angst vor dem Roten Stier!«
In der Nähe sang Prinz Lir:
Andre mögen dir mehr versprechen, als sie halten können,
all ihre Habe, solange sie leben …
Die Lady Amalthea krampfte ihre Hände um die Brüstung und sehnte ihn herbei, denn der König musste wahnsinnig sein. Unter ihnen lagen der fahle Strand, die Felsen und die einlaufende Flut, sonst nichts.
»Ich sehe ihnen gerne zu. Sie erfüllen mich mit Freude.« Die kindische Stimme sang beinahe. »Es kann nichts anderes als Freude sein. Zwei von ihnen standen in den ersten Morgenschatten. Eines trank aus einem Bach, das andere hatte den Kopf auf seinen Rücken gelegt. Ich dachte, ich müsse sterben. Da sagte ich zum Roten Stier: ›Das muss mir gehören. Ich muss alles davon besitzen, denn meine Sehnsucht ist sehr groß.‹ Und der Rote Stier hat sie gefangen, eins nach dem andern. Ihm war es gleichgültig, ich hätte genauso gut Maikäfer oder Krokodile verlangen können. Er kann nur unterscheiden zwischen dem was ich will, und dem, was ich nicht will.«
Er vergaß ihre Anwesenheit, beugte sich über die niedrige Mauer; sie hätte leicht den Turm verlassen können. Doch sie blieb, wo sie war, denn ein alter böser Traum erwachte ringsum, obgleich es Tag ’war. Die Flut zerschellte an den Felsen, schoss schäumend wieder zusammen, und Prinz Lir ritt singend daher. »Ich werde dich lieben, solang ich nur kann, und nie nach deiner Liebe fragen.«
»Ich muss sehr jung gewesen sein, als ich sie zum ersten Mal sah«, sagte König Haggard. »Jetzt bin ich wohl alt, denn inzwischen habe ich viele, viele Dinge aufgehoben und wieder weggelegt; nichts war mir den Einsatz meines Herzens wert, weil nichts von Dauer ist. Ich hatte recht – und bin immer alt geblieben. Doch sehe ich ein Einhorn, dann ist es wieder genau so wie an jenem Morgen in den Wäldern, und ich bin wahrlich jung, mir selbst zum Trotz, und alles ist möglich in einer Welt, die solche Schönheit birgt.« ›In dem Traum sah ich auf vier weiße Beine hinab und spürte die Erde unter gespaltenen Hufen. Auf meiner Stirn fühlte ich das gleiche Brennen, das ich jetzt fühle. Doch es gab keine Einhörner, die auf der Flut hereinkamen. Der König ist wahnsinnig.‹ Haggard sagte: »Ich frage mich, was aus ihnen wird, wenn ich nicht mehr bin. Der Rote Stier wird sie unverzüglich vergessen, das weiß ich, und einen neuen Herren suchen. Doch bin ich nicht sicher, ob sie selbst dann den Mut zur Freiheit finden werden. Ich hoffe nicht, denn dann gehören sie auf ewig mir!«
Er drehte sich um und sah sie an, seine Augen waren so gut und gierig wie die des Prinzen Lir, wenn er sie anblickte. »Du bist das letzte Einhorn«, sagte er, »Der Stier verfehlte dich, weil du wie eine Frau geformt warst, doch ich habe es die ganze Zeit
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