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Das letzte Einhorn

Das letzte Einhorn

Titel: Das letzte Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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Wenigstens die purpurroten mit den – mit den Beinen?«
    »Nein, das kann ich nicht«, erwiderte Schmendrick grob. »Sei still. Wo ist der Schädel?«
    Die Lady Amalthea sah ihn von einer Säule herabgrinsen, zitronenklein im Dunkel und blass wie der Morgenmond, aber sie sagte nichts. Seitdem sie den Turm verlassen hatte, war kein Wort über ihre Lippen gekommen. »Dort!« sagte der Zauberer. Er ging zu dem Totenkopf hinüber und spähte in dessen geborstene und zerfallene Augenhöhlen, nickte gemessen und gab feierliche Laute von sich. Molly Grue starrte den Schädel genauso eifrig an, blickte jedoch immer wieder nach der Lady Amalthea. Nach einiger Zeit meinte Schmendrick: »Ausgezeichnet. Geht ein bisschen zur Seite.«
    »Gibt es wirklich Zaubersprüche, die einen Totenkopf zum Sprechen bringen können?« fragte Molly. Der Zauberer spreizte seine Finger und warf ihr ein kleines, kompetentes Lächeln zu.
    »Es gibt für alles Zauberformeln! Die Meistermagier waren große Zuhörer, und sie ersannen Mittel und Wege, alle Dinge dieser Welt zu bezaubern – ob lebend oder tot –, bis sie mit ihnen redeten. Das ist für einen Magier das Wichtigste: Hören und Sehen.« Er schöpfte tief Luft und rieb sich die Hände. »Der Rest ist Handwerk. Dann wollen wir mal.«
    Er sah den Schädel scharf an, legte eine Hand auf dessen kahlen Scheitel und sprach ihn mit tiefer, befehlender Stimme an. Die Worte marschierten wie Soldaten aus seinem Munde, ihre Schritte hallten wider vor Kraft, als sie die finstere Luft durchschritten, doch der Schädel gab nicht die geringste Antwort.
    »Das werden wir gleich haben«, flüsterte Schmendrick. Er nahm die Hand von dem Totenkopf und sprach wieder zu ihm. Dieses Mal klang sein Spruch gemessen und schmeichelnd, beinahe bittend. Der Schädel schwieg; doch Molly kam es vor, als huschte über die gesichtslose Vorderseite etwas wie Wachsamkeit und verschwände wieder.
    In dem schwanken Licht des leuchtenden Ungeziefers schimmerte das Haar der Lady Amalthea wie eine Blume. Sie schien weder neugierig noch gleichgültig, sondern war auf eine Art ruhig, wie es ein Schlachtfeld zuweilen ist; sie beobachtete Schmendrick, wie er eine Zauberformel nach der anderen aufsagte, an einen sandfarbenen Knochenknorren hin, der genauso stumm war wie sie selbst. Jeder Spruch klang verzweifelter als der vorhergegangene, doch der Totenkopf rührte und regte sich nicht. Molly Grue war ganz sicher, dass er Bewusstsein besaß, dass er sie hörte und sich über sie lustig machte. Sie kannte das Schweigen des Spotts zu gut, um es mit dem des Todes zu verwechseln. Die Uhr schlug neunundzwanzigmal, wenigstens gab Molly an diesem Punkt das Zählen auf. Die rostigen Schläge klirrten noch gegen den steinernen Boden, als Schmendrick plötzlich beide Fäuste schüttelte und schrie: »D ’u hast es ja gewollt, du eingebildete Kniescheibe! Was hältst du zur Abwechslung von einem Schlag aufs Auge?« Seine Stimme löste sich auf in ein Gefauche aus Wut und Schmerz. »Nur zu!« sagte der Schädel. »Schrei, weck den alten Haggard ruhig auf!« Seine Stimme klang wie knackende Zweige, die der Wind gegeneinander schlägt. »Schrei noch lauter. Der alte Knabe ist wahrscheinlich sowieso in der Nähe, er schläft nicht viel.«
    Molly stieß einen leisen, entzückten Schrei aus, und selbst die Lady Amalthea kam einen Schritt näher. Schmendrick stand mit geballten Fäusten da, auf seinem Gesicht zeigte sich kein Triumph. Der Schädel sagte: »Auf, frag mich, wie man den Roten Stier findet. Du tätest gut daran, meinen Rat einzuholen. Ich bin des Königs Aufseher, eingesetzt, den Weg zum Roten Stier zu bewachen. Nicht einmal Prinz Lir kennt den geheimen Gang, doch ich kenne ihn.«
    Furchtsam fragte Molly: »Wenn du wirklich hier auf Wache stehst, warum schlägst du dann nicht Alarm? Weshalb bietest du uns deine Hilfe an, anstatt die anderen Wächter herbeizurufen?«
    Der Schädel lachte klappernd. »Ich stehe schon sehr lange auf dieser Säule. Ich bin Haggards Hauptmann gewesen, bis er mir eines Tages grundlos den Kopf abschlagen ließ. Das war zu der Zeit, als er Böses tat, um herauszufinden, ob es wirklich das wäre, was er gern getan hätte. Nun, das war es nicht; er aber dachte, man könne aus meinem Kopf genauso gut einen Nutzen ziehen, also hat er ihn hier raufgestellt, und ich muss ihm jetzt als Wächter dienen. Unter diesen Umständen bin ich König Haggard nicht ganz so treu ergeben, wie ich es sein könnte.«
    Leise sagte

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