Das letzte Einhorn
hierbleiben müssen, bis du so kahl bist wie ich. Weshalb ein einfaches Geheimnis komplizieren? Man geht durch die Uhr, und auf der anderen Seite ist der Stier. Her mit!«
»Aber die Katze sagte doch …«, fing Schmendrick an. Doch dann ging er zur Uhr hinüber. Die Finsternis bewirkte, dass er einen Hügel hinunterzugehen schien, er wurde kleiner und gebeugter. Als er die Uhr erreicht hatte, ging er ohne anzuhalten weiter, als wäre sie wirklich nur ein Schatten, und stieß sich die Nase blutig.
»Sehr witzig!« sagte er kühl zu dem Schädel, als er zurückkam. »Hast du gedacht, du könntest mich so leicht reinlegen? Der Weg zum Stier mag zwar durch diese Uhr führen, aber dazu muss man noch das Geheimnis wissen. Sag’s mir, oder ich verschütte sogleich den Wein, dann kannst du dich an seinen Geschmack und an seinen Geruch erinnern, solang du willst. Entscheide dich schnell!«
Der Schädel lachte, dieses Mal klang es nachdenklich, fast freundlich. »Ruf dir ins Gedächtnis, was ich über Zeit gesagt habe. Als ich noch lebte, glaubte ich – so wie du jetzt –, Zeit sei zumindest so fest und real wie ich selbst, womöglich noch mehr. Ich sagte ›ein Uhr‹, als ob ich es sehen, und ›Montag‹, als ob ich es auf einer Landkarte finden könnte. Ich ließ mich jagen, von Minute zu Minute, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr ließ ich mich jagen, so als bewegte ich mich von einem Ort an einen anderen. Wie alle Menschen lebte ich in einem Haus, das aus Sekunden und Minuten, aus Wochendenden und Neujahrstagen erbaut war, und ich traute mich nie hinaus, bis ich starb, denn eine andere Tür gab es für mich nicht. Heute weiß ich, dass ich durch die Mauern hätte gehen können.« Molly blinzelte ratlos, doch Schmendrick nickte. »Ja«, sagte er, »so machen es die großen Magier. Aber die Uhr …«
»Die Uhr wird nie die richtige Stunde schlagen«, sagte der Schädel. »Haggard hat ihr Werk vor langer Zeit ruiniert, als er eines Tages versuchte, die Zeit festzuhalten, als sie vorüberschwang. Doch das Wichtigste, was es zu verstehen gilt, ist: Es kommt nicht darauf an, ob die Uhr demnächst zehnmal schlägt, oder sieben, oder fünfzehn Uhr. Man kann seine eigene Zeit schlagen, und mit dem Zählen anfangen, wo man will. Wenn man das verstanden hat, dann ist jede Stunde für dich die richtige.« Die Uhr schlug vier. Der letzte Schlag war noch nicht verklungen, als unter der Halle eine Antwort erscholl. Es war weder ein Brüllen noch das drohende Grollen, weiches der Rote Stier im Traum oft von sich gab; es war ein langgezogener, fragender Ton, als wäre der Stier davon erwacht, dass er in der Nacht etwas Ungewohntes gewittert hatte. Die Steinfliesen zischelten wie Schlangen, und sogar die Finsternis schien zu erschauern. Das glimmernde Nachtgetier flüchtete eiligst in die Ecken und Winkel der Halle. Molly wusste, dass König Haggard in der Nähe war.
»Gib mir den Wein«, forderte der Schädel. »Ich habe meinen Teil der Abmachung gehalten.« Schweigend setzte Schmendrick das leere Fläschchen an den leeren Mund, der Schädel seufzte und gurgelte und schmatzte. »Ah,« rief, er »das war die richtige Sorte, das war Wein ! Du bist ein besserer Zauberer, als ich gedacht hätte. Verstehst du mich, was die Zeit betrifft?«
»Ja«, antwortete Schmendrick, »ich glaube.« Der Rote Stier wiederholte den seltsamen Ton, der Totenkopf auf der Säule hüpfte. »Nein«, sagte Schmendrick. »ich verstehe es nicht. Gibt es denn keinen anderen Weg?«
»Wie könnte es!« Molly hörte Schritte. Stille. Dann die dünne, vorsichtige Ebbe und Flut eines Atems. Sie konnte nicht sagen, von wo es kam. Schmendrick sah sie an, sein Gesicht schien vor Furcht und Verwirrung von innen heraus fleckig geworden zu sein, wie das Innere einer Lampe. Es war auch ein Licht darin zu sehen, doch es schwankte wie eine Laterne im Sturm.
»Ich glaube, ich versteh’s«, sagte er, »aber ich bin mir alles andere als sicher. Ich will es versuchen.«
»Ich denke immer noch, es ist eine gewöhnliche Uhr«, sagte Molly. »Aber das macht nichts. Ich kann auch durch eine richtige Uhr gehen.« Sie wollte ihn mit ihren Worten beruhigen, doch dann spürte sie in ihrem Körper eine Wärme, denn sie wusste, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. »Ich weiß, wohin wir gehen müssen, und das ist mindestens so gut, wie die richtige Zeit zu wissen.«
Der Schädel unterbrach sie. »Weil der Wein so gut war, will ich euch einen kostenlosen Rat mit auf den Weg
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