Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
nun?
Kapitel 96
In der Werkstatt
22. Dezember 1453
Kurz nach neun Uhr abends
Ich muss die Ikone untersuchen. Vielleicht verrät sie das Versteck des Mandylions.
In wenigen Schritten bin ich bei der Tür und reiße sie ungestüm auf.
»Prospero? Wo steckst du?«
Kein Getuschel, kein Geräusch.
Graben Prospero und Vittorio das Ossarium um? Haben sie mein Notfallversteck gefunden und suchen weiter?
Ich blicke zurück zur Werkbank: Wieso haben sie dann keine Schaufel mitgenommen? Der Boden zwischen den Knochen und Schädeln ist gefroren …
Eine bange Ahnung befällt mich.
Nein, nicht das! Bitte nicht schon wieder!
Ich eile den Gang entlang zur Bibliothek, schlittere auf den unebenen Steinplatten um die Ecke und hetze die Treppe hinunter.
Das Portal zu den Ställen ist nur angelehnt, daher der eisige Wind, der durch die Gänge fegt, und daher die Schneeverwehung auf der Schwelle.
Ich werfe einen Blick hinaus ins Schneetreiben.
Niemand zu sehen.
Weiter zur Küche: Ich renne den Gang entlang und bleibe im Eingang stehen.
Die Küche ist kalt, dunkel und verlassen. Kein Kaminfeuer, keine glühende Asche, kein duftender Gämsenbraten in der Kupferpfanne, kein gedeckter Tisch, kein Wein, kein Vittorio.
Und kein Gepäck von Prospero und Vittorio. Keine Satteltaschen mit Proviant, keine Kleidung, keine Mäntel.
Als wären sie nie …
Nein, Sandra, nicht weiter! Das kann nicht sein!
Auf dem Absatz mache ich kehrt, hetze zur offenen Tür, reiße sie auf, stapfe durch den knietiefen Schnee und gehe in den Stall, dessen Tor sperrangelweit offen steht und im böigen Wind hin und her schwingt.
Ich hetze bis zur letzten Pferdebox, um ganz sicherzugehen, dass ich mich nicht täusche.
Das kann nicht sein!
Die drei Pferde sind verschwunden, das von Jibril, das von Galcerán und meines, das letzte Nacht ersetzt wurde, nachdem der schwarze Hengst abgestürzt war. Und ein viertes und fünftes Pferd, auf denen Prospero und Vittorio geritten sind, waren niemals hier. Kein Sattel, kein Halfter, kein Futter, keine Pferdeäpfel, kein Stroh. Es riecht nicht einmal nach Pferd. Der Stall ist so sauber wie der päpstliche Audienzsaal im Palazzo Colonna.
»Prospero? Vittorio?«, rufe ich. Und dann: »Jibril!«
Keine Antwort.
Sie sind verschwunden, denke ich verzweifelt. Oder waren sie niemals hier? Habe ich das alles nur geträumt?
O Gott, lass mich aufwachen! Ich ertrage das nicht länger!
Dann schießt mir ein Gedanke durch den Kopf: mein Notizbuch!
Kapitel 97
Im Stall
22. Dezember 1453
Kurz nach neun Uhr abends
Ich laufe hinüber ins Aedificium, verriegele die Tür hinter mir und hetze, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf ins Schlafzimmer des Abtes.
Als ich heute Morgen aus meinem Albtraum der Nacht des Verrats erwachte, beobachtete Prospero mich vom Tisch aus. Er hatte meine Reisetruhen durchwühlt und meine Beute auf dem Tisch ausgebreitet: die Abendmahlskelche und die Ikone aus dem Chora-Kloster, das Reliquiar des Mandylions, die Karte von Konstantinopolis, die Phiole mit dem vergifteten Haschisch, das Fläschchen mit der Geheimtinte, den zerbrochenen Schlüssel.
Bis auf meinen Abschiedsbrief und mein Testament ist der Tisch jetzt leer.
Ein rascher Blick in die Truhen zeigt mir: Alles ist noch da. Dann ein Blick über die Schulter zur Tür: Da lehnt auch meine Grabplatte an der Wand. Alessandra Colonna Orsini, gefallen in Konstantinopolis am 29. Mai 1453.
Ich springe auf und nehme meinen Abschiedsbrief vom Tisch. ›Prospero, es ist so weit … Wenn Du diese Zeilen liest, bin ich tot …‹
Was für eine makabre Inszenierung!
Prospero war hier! Er muss hier gewesen sein! Aber wo ist er jetzt? Um Gottes willen! Was ist geschehen, während ich ohnmächtig war?
Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen, greife nach dem Notizbuch, drehe es um und schlage die letzten Seiten auf.
Der letzte Eintrag vor den leeren Seiten in der Mitte des Buches, wo die Vergangenheit auf die Gegenwart trifft, lautet:
Ich bin nicht verrückt , denn ich kann klar denken und vernünftige Entscheidungen treffen. Und trotzdem geschehen immer wieder erschreckende Dinge , die ich mit meinem Verstand nicht begründen kann. Aber ich werde schon noch dahinterkommen , was mit mir geschieht.
Kurz entschlossen ziehe ich den Silberstift aus dem Buchrücken und schreibe alles auf, was seit meinem Erwachen vorhin geschehen ist. Nein, Sandra! Was du glaubst , das geschehen sein könnte. Und was du vermutest , das in jener Nacht von Galceráns
Weitere Kostenlose Bücher