Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Angst.«
»Und mir erst! Gil hat es geschafft, um mich herum einen Kerker des Geistes zu errichten, in dem ich gefangen war. Er brauchte keine Ketten, um mich an der Flucht zu hindern, keine Wärter, die mich aufhielten. Denn nur hier, in dieser Abtei, konnte ich herausfinden, was wirklich geschehen war. In Byzanz und in Granada.«
»Wie heimtückisch!«
»Du sagst es, Prospero. Denn Gil hatte mein Notizbuch mit all meinen Erinnerungen. Aber das ist noch nicht alles.«
»Was kommt denn noch?«
»Das Notizbuch war erst der Anfang.«
»Erzähl weiter, Sandra!«, drängt er und trommelt mit den Fingern ungeduldig auf die Armlehne.
Ich bin so ungeduldig wie er. Uns bleibt vielleicht nicht mehr viel Zeit.
»Wie gesagt, Gil sitzt im Dormitorium und schreibt meine Erinnerungen aus Byzanz ab …«
Kapitel 32
Im Dormitorium
21. Dezember 1453
Viertel nach zehn Uhr nachts
… an ihm vorbei kann ich also nicht in die Kirche und zum Versteck des Mandylions gelangen.
Gil hält inne und liest das, was er geschrieben hat, noch einmal durch. Dann steckt er die Feder ins Tintenfass und fährt sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er wirkt erschöpft.
Er greift zu einem Krug, der neben ihm auf dem Tisch steht, und schenkt sich so schwungvoll ein, dass der Rotwein über den Rand des Zinnbechers schwappt, in einem Schwall über die Tischplatte rinnt und auf den Boden fließt. Gil schnauft genervt, hält den Becher unter den tropfenden Rand und schiebt mit der gewölbten Hand den Wein hinein. Dann stürzt er ihn in einem Zug hinunter. Aus seinen fahrigen Bewegungen schließe ich, dass es nicht sein erster Becher war. Gil ist dabei, sich zu betrinken.
Was quält dich so, Gil? Meine Erinnerungen an die Schlacht um Byzanz? Oder der Brief deines Großmeisters mit meinem Todesurteil?
Ich ziehe mich zurück, verlasse den Schlafsaal der Mönche und ziehe die Tür leise hinter mir ins Schloss. Dann schleiche ich zur Treppe. Von unten dröhnt noch immer Lionels und Adrians Klopfen zu mir herauf.
Meine Stiefel knirschen auf den Stufen, als ich die Treppe hinunterhusche. Die Ritter haben Steinsplitt auf die Stufen geworfen, damit ich mich nicht unbemerkt an ihnen vorbeischleichen kann. Aber Adrian und Lionel poltern derart laut in der Bibliothek, dass sie mich unmöglich hören können, als ich am Scriptorium und an der Bibliothek vorbei zur nächsten Treppe husche.
»Und wenn sie es doch in der Geheimkammer versteckt hat?«, fragt Lionel unvermittelt.
Ich bleibe stehen und lausche.
Adrian schnauft. »Wir haben doch schon alles durchwühlt.«
»Sie hat die Tür aufgebrochen«, gibt Lionel zu bedenken. »Vielleicht hat sie sich erinnert …«
Schritte auf den Dielen der Bibliothek. Die beiden gehen offenbar zur Geheimkammer hinüber.
Leise husche ich zur Tür der Bibliothek und luge um ein Bücherregal herum in den Raum. Da sind sie. Ich wage mich noch weiter vor, damit ich sie beobachten kann. Die beiden Mönchsritter knien vor der offenen Tür der Geheimkammer und betrachten das Durcheinander aus Papyrus und Pergament.
»Das perfekte Versteck«, murmelt Lionel, während er mit spitzen Fingern in den von Mäusekot beschmutzten Büchern wühlt.
»Es stinkt.«
»Genau.«
»Und es ist ekelig.«
»Und wie.«
»Sie wirft die allerheiligste Reliquie der Christenheit nicht auf eine stinkende Müllhalde, in der sich die Mäuse tummeln.«
»Sie ist eine Häretikerin, Fra Adrian. Vor sechs Jahren haben die römischen Inquisitoren sie zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Sie sollte brennen …«
»… und sie hat gebrannt – beinahe! Ich war auf dem Campo dei Fiori, am Tag des Konklaves. Nach dem Habemus Papam hat der Papst höchstselbst sie vom brennenden Scheiterhaufen geholt.« Adrian erhebt sich und geht zwei Stufen hinunter. »Sieh mal, die Ikone da drüben …«
»Was ist damit?«, fragt Lionel. Er springt auf und späht über Adrians Schulter hinweg in die dunkle Kammer.
»Sieht auf den ersten Blick byzantinisch aus«, nuschelt Adrian. Er beugt sich vor und zieht die Ikone mit spitzen Fingern zwischen den Pergamenten und Papyri hervor. Dann hält er sie mit ausgestreckten Armen vor sich und betrachtet sie angeekelt. »Mäusekot, bäh!« Er bekreuzigt sich mit fahrigen Bewegungen.
»Sag mir, Fra Adrian: Wieso liegt eine byzantinisch-orthodoxe Ikone Jesu Christi im römisch-katholischen Müll?«
»Keine Ahnung.« Von allen Seiten betrachtet Adrian das Heiligenbild, das offenbar auf eine dicke und schwere
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