Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
nicht erkannt, weil mein Schwager seine kaiserlichen Insignien weggeworfen hatte, bevor er sich mit seinem Schwert den in die Stadt eindringenden Janitscharen entgegenstellte. Ich erinnere mich, wie sie auf Befehl von Mehmed nach seinen sterblichen Überresten suchten. Ich erinnere mich, wie ich nach meiner Flucht durch die besetzte Stadt mit Galcerán vor diesem Haufen von Köpfen stand und sein Gesicht entdeckte. Wie ich seine kalte Stirn berührte, wie ich seine Lider schloss, wie ich für ihn betete. Und ich erinnere mich, wie Galcerán mich fest in die Arme nahm, als ich weinend zusammenbrach.
Mit Tränen in den Augen starre ich jetzt den Schädel an, der mich an Konstantin erinnert. Nicht dieses Grauen! Das ertrage ich nicht! Ich wende den Blick ab und starre auf die mit bleichen Knochen und Schädeln angefüllte Wandnische, um nicht an die anderen übereinandergeworfenen Leichen in Byzanz denken zu müssen. Männer, Frauen, Kinder, Greise. Mönche, Nonnen, Priester. Drei Tage lang haben die Türken in der Stadt gewütet – geplündert, vergewaltigt, massakriert, gepfählt und angezündet. Selbst Mehmed konnte ihrem Blutrausch nicht Einhalt gebieten.
Drei Tage Apokalypse, als die Todesengel wüteten, drei Tage Hölle.
Schniefend wische ich mir die eisigen Tränen aus dem Gesicht und lege meine Hand auf den Schädel, der mich an Konstantin erinnert. Diese Geste, diese Berührung mit dem Tod, ist auch ein Abschied.
Taumelnd gehe ich weiter zwischen den Knochen und Schädeln hindurch zu einer der Wandnischen. Ein flacher Hügel inmitten der Gebeine hat meine Aufmerksamkeit erregt. Ein kürzlich ausgehobenes Grab? Kein Kreuz, kein Grabstein, aber aufgewühlter Schnee. Wer liegt hier begraben?
Ich starre den Totenhügel an, und mein Herz beginnt zu klopfen. Nein, die Frage lautet nicht: Wer liegt hier begraben? Sie lautet: Was liegt hier begraben?
Ich knie mich hin, hebe die Gebeine von dem Grab und fege mit beiden Händen den Schnee zur Seite. Darunter kommt Erde zum Vorschein, frisch aufgewühlt! Das Loch scheint erst vor wenigen Tagen unter den zerborstenen Bodenfliesen des Ossariums ausgehoben worden zu sein.
Ich sehe mich nach einem Werkzeug um, einer Schaufel, einem Brett, aber ich finde nichts. Mit dem Dolch stochere ich in der hart gefrorenen Erde und schiebe die herausgebrochenen Klumpen mit der Hand zur Seite.
Ich muss eine Elle tief graben, als ich plötzlich auf etwas stoße.
Eine kleine Kiste aus Holz. Schon ziemlich vermodert.
Das Mandylion?
Mit vor Aufregung zitternden Fingern grabe ich weiter, stochere mit dem Dolch um die Kiste herum, um sie freizulegen. Ich versuche, sie aus dem Loch zu heben, aber meine Finger rutschen immer wieder ab. Die Schatulle ist festgefroren. Und der Deckel? Er ist verschlossen.
Ich schiebe die Spitze des Dolches unter den Deckel, stoße ihn mit der geballten Faust tiefer in den Spalt und hebele das Schloss auf.
Langsam hebe ich den Deckel an und spähe hinein.
Kapitel 34
Im eingestürzten Ossarium
21. Dezember 1453
Viertel vor elf Uhr nachts
Eine zerlegte Armbrust. Ein Köcher mit zehn Bolzen. Ein Dolch. Ein Beutel mit Goldmünzen. Und ein Siegelring. Ganz unten in der Kiste finde ich zwei blutgetränkte Pergamente.
Mein Versteck für den Notfall. Meine Ausrüstung für eine überstürzte Flucht aus der Abtei.
Ich entzünde meinen Kerzenstummel, stelle ihn auf einige Tropfen Wachs windgeschützt in die Kiste und falte die Schriftstücke auseinander.
Es sind Abschiedsbriefe. Als ich die Namen der beiden Brüder lese, die mir als Bravi viele Jahre lang tapfer dienten, krampft mein Herz sich zusammen. Wieder steigen mir die Tränen in die Augen, und meine Kehle wird eng. Ich hatte geschworen, ihren Eltern diese Briefe zu übergeben. Mit dem verschneiten Ärmel wische ich mir über das Gesicht. Dann falte ich die Briefe wieder zusammen und schiebe sie unter meine Jacke.
Mit der Klinge stochere ich in der Kiste herum, aber sie hat kein Geheimfach und keinen doppelten Boden.
Das Mandylion ist nicht da.
Ich muss erst mal tief durchatmen.
Dann erinnere ich mich an den Siegelring, der neben mir im Schnee liegt. Ich halte ihn ins Licht der Kerze. Das eingravierte Wappen zeigt einen Löwen, der ein aufgeschlagenes Evangeliar beschützt. Hinter ihm ragt wuchtig eine Säule auf.
Während ich mit dem Finger über das fein ziselierte Wappen streiche, das mir seltsam vertraut ist, muss ich wieder an den Traum denken, in dem der Sterbende mir die Rose gibt: »Nimm
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