Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
klopfen offenbar die Wände ab, um einen Hohlraum zu finden, in dem ich das Mandylion versteckt habe. Ob sie die Geheimkammer schon durchwühlt haben?
In der offenen Tür bleibe ich wie angewurzelt stehen.
Am Ende des Schlafsaals brennt noch Licht! Ich spüre, dass jemand hier ist. Mein Mund wird trocken. Ich halte den Atem an und lausche. Dann ein Rascheln, als ob eine Seite umgeblättert wird. Und ein Kratzen.
Leise husche ich an einem vorgezogenen Vorhang entlang zum Mittelgang und spähe an den Mönchszellen vorbei zum Tisch des Significator Horarium.
Dort sitzt Gil im Licht einer fast heruntergebrannten Stundenkerze, blättert in einem kleinen ledergebundenen Büchlein und kritzelt hin und wieder etwas auf ein Blatt Pergament. Er kopiert offenbar mein Notizbuch. Und das schon seit Stunden, denn neben ihm liegt ein ganzer Stapel Pergamente, die er vermutlich unten im Scriptorium gefunden hat.
Aber wozu?, frage ich mich verwirrt. Was will er mit …
Intermezzo 2
In der Zelle des Abtes
22. Dezember 1453
Viertel vor ein Uhr mittags
»Einen Augenblick, Sandra«, reißt mich der Kardinal aus meinem Bericht. »Er kopierte deine Tagebucheintragungen aus Byzanz?«
»So schien es.«
Er hebt die Augenbrauen und legt den Kopf schief, fragt jedoch nicht nach, was ich damit meine. »Und der zerbrochene Schlüssel, den er aus deinem Zimmer mitgenommen hatte, als er glaubte, du wärst eingeschlafen?«
»Der lag vor ihm auf dem Tisch. Neben einigen zerknüllten und zerfetzten Zetteln. Offenbar hatte Gil versucht, ein zusammengerolltes Pergament in den Schlüsselschaft zu stopfen.«
»Er hat also zu diesem Zeitpunkt geahnt, dass der Schlüssel eine Geheimbotschaft oder eine Schatzkarte enthalten haben konnte.«
»Genau.«
»Und dass du sie gefunden hast.«
Ich nicke. »Meinen Spuren im Schnee konnte er genauso folgen wie ich seinen«, gebe ich zu bedenken. »Als ich mit Galcerán vor dem Schneesturm in diese verlassene Abtei flüchtete, tappte ich selbst in die Falle, die ich Galcerán gestellt hatte, weil ich seinen Verrat vorhergesehen hatte. Finis Terrae – diese abgeschiedene Abtei liegt am Ende der Welt. Die Einsamkeit, die absolute Konzentration auf das Wesentliche, das deutet die Ordensregel der Benediktiner an, macht das Beste im Menschen sichtbar – oder das Schlechteste. Ich war Gil ausgeliefert, so wie er mir. Ich konnte nicht fliehen, ohne Spuren zu hinterlassen, denen er folgen konnte. So wie er nicht einfach die Abtei verlassen konnte.«
Er schlägt mit der Faust auf die Armlehne und flucht. »Ash-Shah mat! Ihr habt euch gegenseitig schachmatt gesetzt. Keiner von euch konnte einen Spielzug machen.«
»Nur ein einziger Zug ist jetzt noch möglich. Wer von uns das Mandylion findet, gewinnt das Spiel. Und das ist noch lange nicht vorbei. Die Regeln sind denkbar einfach: Der Sieger gewinnt alles, der Unterlegene verliert alles. Auch sein Leben.«
Er schnauft. »Du meinst es ernst.«
»Todernst.« Ich nicke. »Ich werde Gil töten.«
Er birgt sein Gesicht in den Händen und atmet tief durch.
Wenn er der ist, der zu sein er vorgibt, dann kennt er mich, seit wir beide Kinder waren. Dann weiß er, dass ich nicht zögern werde, Gil meinen Dolch ins Herz zu stoßen.
Und wenn er nicht der ist, als der er sich mir vorgestellt hat, dann darf ich ihm nicht trauen. Dann muss ich auch ihn töten.
Der Kardinal sieht mich wieder an. »Wo ist Gil eigentlich?«
Ich winke lässig ab. »Keine Sorge, dazu komm ich noch, um dich von deiner Ungeduld zu erlösen.«
»He, spann mich nicht so auf die Folter!«, beschwert er sich.
»Tu ich ja nicht! Wenn ich nicht der Reihe nach erzähle, verstehst du die Geschichte nicht. Selbst ich begreife nicht, was alles geschehen ist. Oder nicht geschehen ist.«
Genervt verdreht er die Augen und zieht eine Schnute. »Na gut, wie du willst. Zurück zu Gil: Er wusste also zu diesem Zeitpunkt, dass du in der Abtei unterwegs warst.«
»Und er ahnte, dass meine Erinnerungen an Galceráns Tod zurückkamen. Aus diesem Grund hatte er seinen Freund nach vier Tagen noch nicht begraben, sondern in der Krypta aufgebahrt. Damit ich ihn finde und mich erinnere.«
»Und aus genau diesem Grund hat er Konstantins Fläschchen aus der Truhe geholt.«
»Um mich in Panik zu versetzen und in den Wahnsinn zu treiben. Er wusste, wie erschöpft ich war. Er wusste, dass ich durch meine kleine persönliche Hölle irrte, ohne einen Ausweg zu finden.«
Er schüttelt langsam den Kopf. »Gil macht mir
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