Das letzte Experiment
hatten alle Karten eine rote Markierung für einen Staatsfeind. Eine blaue Markierung bedeutete, dass die betreffende Person in Zeiten eines nationalen Notstands zu verhaften war. Und die dritte Gruppe mit einer grünen Markierung stand für Personen, die zu allen Zeiten zu überwachen waren. Diese drei Markierungen befanden sich auf der linken Seite der Karte. Auf der rechten Seite gab es weitere Farbmarkierungen für Kommunisten, mutmaßliche Angehörige des Widerstands, Juden, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, Freimaurer und so weiter. Die gesamte Kartei wurde zweimal im Jahr aktualisiert. Zum Jahresanfang und zum Ende des Sommers. Es war die Zeit, in der wir immer am meisten zu tun hatten. Himmler bestand darauf.»
«Faszinierend», sagte Marcello.
«Informanten hatten spezielle Karten. Genau wie Agenten. Doch die gesamte Kartei war vollkommen getrennt von den Akten der Abwehr, das war der deutsche militärische Geheimdienst.»
«Sie meinen, die Informationen wurden nicht ausgetauscht?»
«Absolut nicht. Abwehr und Reichssicherheitshauptamt haben sich gehasst.»
Jetzt, da die Unterhaltung lief, wurde es Zeit, mich weiter vorzuwagen.
«Haben Sie eine Akte über ein jüdisches Ehepaar namens Yagubsky?», fragte ich beiläufig.
Marcello nahm das schwere braune Hauptbuch aus dem runden Regal hinter sich und blätterte mit häufig belecktem Zeigefinger in den Seiten. Schätzungsweise wurden die Seiten auf diese Art Tag fürTag Hunderte Male befeuchtet, und ich war überrascht, dass sie nicht ausgefranst waren wie ein Block Salz. Nach ungefähr einer Minute schüttelte Marcello den Kopf. «Nichts, fürchte ich.»
Ich erzählte ihm noch ein wenig mehr. Erfand eine Geschichte, wie Heydrich geplant habe, eine große, mit programmierbarer Schaltelektronik gesteuerte Maschine zu bauen, die imstande wäre, die gleichen Informationen wie das Glücksrad auf einem Fernschreiber auszugeben, in einem Zehntel der Zeit.
Ich ließ Marcello eine Weile darüber staunen, bevor ich ihn fragte, ob ich Einblick in die Unterlagen bezüglich Direktive elf nehmen könnte.
Marcello wand sich ein wenig, als wäre es ihm unangenehm, mich erneut enttäuschen zu müssen.
«Darüber haben wir nichts hier», erklärte er. «Diese Art von Unterlagen finden Sie nicht bei uns. Nicht mehr. Sämtliche Akten in Zusammenhang mit der argentinischen Einwanderungsbehörde wurden vor etwa einem Jahr vom Außenministerium entfernt. Ich glaube, sie wurden irgendwo gelagert.»
«Oh? Und wo?»
«Im alten Hotel de Inmigrantes. Es befindet sich am Norddock, auf der anderen Seite der Avenida Eduardo Madero. Es wurde zu Beginn des Jahrhunderts erbaut, um die große Zahl an Einwanderern abzufertigen, die nach Argentinien kam. Ähnlich wie Ellis Island in New York. Die Anlage steht inzwischen mehr oder weniger leer. Selbst die Ratten halten sich fern. Ich glaube, es gibt nur noch eine Minimalbesetzung, die dort arbeitet. Ich selbst war noch nicht dort, aber einer der anderen Registraturbeamten hat geholfen, ein paar Aktenschränke nach dort zu bringen, und er meinte, es wäre alles ziemlich primitiv. Wenn Sie nach etwas Bestimmtem suchen, wenden Sie sich wahrscheinlich am besten gleich ans Außenministerium.»
Ich fuhr zum Bahnhof Perón, parkte meinen Wagen und suchte einen Fernsprecher. Ich wählte die Nummer, die Anna Yagubsky mir gegeben hatte. Ein alter Mann nahm das Gespräch an. Seine Stimme klang misstrauisch. Ich vermutete, dass er Annas Vater war. Als ich meinen Namen nannte, stellte er sogleich eine Menge Fragen, von denen ich keine hätte beantworten können, selbst wenn ich gewollt hätte.
«Hören Sie, Señor Yagubsky, ich würde mich wirklich sehr gern für eine Weile mit Ihnen unterhalten, doch im Augenblick bin ich ein wenig unter Zeitdruck. Würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihre Fragen einstweilen zurückzustellen und Ihre Tochter ans Telefon zu bitten?»
«Deswegen müssen Sie nicht gleich so unhöflich sein», sagte er.
«Señor, ich bemühe mich ganz im Gegenteil sehr, nicht unhöflich zu erscheinen.»
«Ich bin wirklich erstaunt, Señor Hausner, dass Sie überhaupt Klienten haben, wenn Sie mit allen in diesem Ton reden.»
«Klienten? Ah. Was genau hat Ihre Tochter Ihnen über mich erzählt, Señor Yagubsky?»
«Dass Sie ein Privatdetektiv sind. Und dass Sie von ihr angeheuert wurden, um meinen Bruder zu finden.»
Ich musste grinsen. «Und was ist mit Ihrer Schwägerin?»
«Um ganz ehrlich zu sein, ich kann gut ohne meine
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