Das letzte Experiment
Schwägerin leben. Ich habe nie verstanden, warum Roman sie heiraten musste, und wir sind nie miteinander zurechtgekommen. Sind Sie verheiratet, Señor Hausner?»
«Ich war verheiratet. Ich bin es nicht mehr.»
«Nun, dann wissen Sie zumindest, wie es ist.»
Ich warf eine weitere Münze in den Fernsprecher. «Hören Sie, Señor Yagubsky, ich muss dringend Ihre Tochter sprechen. Ich habe meine letzten fünf Centavos eingeworfen.»
«Schon gut, schon gut. Das ist das Dumme mit euch Deutschen. Ihr habt immer irgendeinen Grund, warum ihr so in Eile seid.»
Er legte den Hörer laustark neben die Gabel, und nach einer kleinen Ewigkeit meldete sich Anna am anderen Ende.
«Was haben Sie meinem Vater erzählt?»
«Ich habe jetzt wirklich keine Zeit mehr für Erklärungen. Ich möchte, dass Sie mich in einer halben Stunde am Bahnhof Perón treffen.»
«Geht das nicht morgen Abend?»
«Nein, morgen ist nicht gut. Ich habe morgen einen Termin beim Arzt und bin vielleicht ein paar Tage im Krankenhaus.» Ich steckte mir hastig eine Zigarette an. «Hören Sie, kommen Sie einfach so schnell hierher, wie Sie können. Ich warte auf dem Bahnsteig nach Belgrano.»
«Können Sie mir nicht sagen, worum es geht?»
«Ziehen Sie alte Sachen an. Und bringen Sie eine Taschenlampe mit. Zwei, wenn Sie zwei haben. Und eine Thermoskanne mit Kaffee. Wir werden eine Weile unterwegs sein.»
«Aber wohin gehen wir?»
«Wir werden ein wenig graben.»
«Sie machen mir Angst. Soll ich vielleicht auch eine Hacke und eine Schaufel mitbringen?»
«Nein, mein Engel, nicht mit Ihren hübschen Händen. Bleiben Sie ruhig, wir graben niemanden aus. Wir graben in alten Akten der Einwanderungsbehörde, und es wird wahrscheinlich staubig, das ist alles.»
«Ich gestehe, dass ich erleichtert bin. Einen Augenblick lang dachte ich … ich meine, ich bin ein wenig empfindlich, was das Ausgraben von Leichen angeht. Ganz besonders nachts.»
«Normalerweise heißt es, nachts wäre die beste Zeit dafür. Auch die Toten sind in der Nacht ein wenig schläfrig.»
«Das hier ist Buenos Aires, Señor Hausner. Die Toten passen ständig auf in Buenos Aires. Deswegen haben wir La Recoleta gebaut. Damit wir es nicht vergessen. Der Tod ist für uns ein Lebensstil.»
«Sie sprechen mit einem Deutschen, Engel. Wir kennen uns auch aus mit dem Tod, wir haben schließlich die SS erfunden, glauben Sie mir.» Das Telefon verlangte blinkend weiteres Geld. «Und das waren soeben meine letzten fünf Centavos, also schaffen Sie Ihren hübschen Hintern hierher, so schnell Sie können.»
«Jawohl, der Herr.»
Ich hängte den Hörer auf die Gabel. Ich bedauerte, Anna in die Sache hineinziehen zu müssen. Mein Plan war nicht ohne ein gewisses Risiko, doch mir fiel niemand ein außer ihr, der mir hätte helfen können herauszufinden, welche Dokumente das waren, die im
Hotel de Inmigrantes
gelagert wurden. Andererseits steckte sie ja auch bereits mittendrin – es ging schließlich um ihre Tante und ihren Onkel. Sie zahlte mir nicht genug, um sämtliche Risiken allein zu tragen. Und weil sie genau genommen überhaupt nichts zahlte, konnte sie verdammt nochmal sehr wohl mitkommen und mir helfen. Ich war nicht sicher, ob es mir gefiel, wenn sie mich «der Herr» nannte. Auf der anderen Seite fühlte ich mich wie jemand, der allein aufgrund seines Alters Respekt verdient hatte. Und daran, so sagte ich mir, würde ich mich wohl gewöhnen müssen. Solange ich noch älter wurde. Das war in Ordnung. Schließlich musste man am Leben bleiben, um älter zu werden.
Ich kaufte mir noch eine Packung Zigaretten, eine
Prensa
und eine aktuelle Ausgabe des
Argentinischen Tageblatts,
der einzigen deutschsprachigen Zeitung, die man lesen konnte, ohne als Nazi abgestempelt zu werden. Doch der Hauptgrund dafür, dass ich in den Bahnhof ging, war der Messerladen. Die Klingen waren hauptsächlich für Touristen, billige Ware mit Knochengriffen für Touristen, die sich als Gauchos oder heißblütige Tangotänzer sahen. Ein paar der weniger spektakulären Klingen schienen geeignet für mein Vorhaben. Ich erstand zwei: ein langes, schmales Stilett, mit dem man ein Schlüsselloch durchstoßen und die Sperre in einem Verriegelungsgehäuse lösen konnte, sowie ein größeres mit einer breiteren Klinge, um ein Fenster aufzustemmen. Ich schob das große Messerim Rücken unter meinen Gürtel und das kleine Stilett in die Brusttasche. Als der Verkäufer mich mit einem merkwürdigen Blick bedachte, grinste
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