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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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ich nur und sagte: «Ich möchte gerüstet sein, wenn meine Schwester zum Essen kommt.»
    Er hätte noch viel überraschter dreingeblickt, hätte er mein Schulterhalfter gesehen.
    Eine halbe Stunde verging. Fünfundvierzig Minuten wurden zu einer Stunde. Ich fing bereits an, Anna zu verfluchen, als sie endlich auftauchte – in einem Ensemble alter Sachen, die aussahen wie von Edith Head. Ein hübsches kariertes Hemd, glattgebügelte Jeans, eine maßgeschneiderte Tweedjacke, flache Halbschuhe und eine große lederne Handtasche. Zu spät erkannte ich meinen Fehler. Einer Frau wie Anna zu sagen, dass sie mit alten Sachen kommen soll, war, als hätte man Berensen gesagt, er solle ein großartiges Gemälde mit Feuerholz rahmen. Ich schätzte, dass sie sich wahrscheinlich mehrmals umgezogen hatte, um sicher zu sein, dass die alten Sachen, die sie trug, die besten alten Sachen waren, die sie zur Auswahl hatte. Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte – Anna Yagubsky hätte selbst in Sackleinen umwerfend ausgesehen.
    Sie musterte unsicher den Zug nach Belgrano.
    «Fahren wir irgendwohin?»
    «Der Gedanke war mir gekommen, ja. Aber nicht in diesem – der langsame zum Paradies soll komfortabler sein, wie ich gehört habe. Scherz beiseite, ich wollte Sie hier auf dem Bahnsteig treffen, damit ich Sie nicht in der Dunkelheit draußen übersehe. Aber jetzt, da Sie vor mir stehen, wird mir klar, dass ich Sie nicht einmal bei einer Massenflucht übersehen hätte.»
    Sie errötete ein wenig. Wir gingen nach draußen auf den Vorplatz. Nachdem wir die gewaltige, widerhallende Kathedrale hinter uns gelassen hatten, gingen wir Richtung Osten, zwischen einer doppelten Reihe geparkter Oberleitungsbusse hindurch und auf einen großen Platz, an dem ein Glockenturm aus rotem Backstein in den Himmel ragte. Gerade schlug die volle Stunde. Unter Akazienspielten Leute Musik, und Liebespaare saßen händchenhaltend auf Bänken. Anna hakte sich bei mir unter, und es wäre richtig romantisch gewesen, wären wir nicht auf dem Weg, in ein öffentliches Gebäude einzubrechen.
    «Was wissen Sie über das Hotel de Inmigrantes?», fragte ich sie, während wir den Eduardo Manero überquerten.
    «Wir fahren ins Hotel de Inmigrantes? Ich habe mich bereits gefragt, ob Sie vielleicht dorthin wollen.» Sie zuckte die Schultern. «Das Hotel de Inmigrantes existiert schon seit Mitte des letzten Jahrhunderts. Meine Eltern könnten Ihnen wahrscheinlich mehr darüber erzählen. Sie haben dort gewohnt, als sie nach Argentinien kamen. Jeder arme Einwanderer bekam im Hotel de Inmigrantes fünf Tage lang freie Kost und Logis. Später, in den dreißiger Jahren, gab es dieses Angebot nur noch für nichtjüdische Einwanderer. Ich weiß nicht genau, wann das Hotel geschlossen wurde. Ich glaube, letztes Jahr stand etwas darüber in den Zeitungen.»
    Wir näherten uns einem honigfarbenen fünfstöckigen Gebäude, das fast genauso groß war wie der Bahnhof. Umgeben von einem Zaun, erinnerte es allerdings mehr an ein Gefängnis als an ein Hotel, und ich dachte, dass dies wahrscheinlich auch seine ursprüngliche Bestimmung gewesen war. Der Zaun war nur zwei Meter hoch, doch oben war Stacheldraht befestigt und erfüllte seinen Zweck. Wir gingen weiter, bis wir ein Tor fanden. Ein Schild verkündete PROHIBIDA LA ENTRADA, darunter sicherte eine Kette mit einem großen Vorhängeschloss den Zugang. Das Schloss war dem Aussehen nach so alt wie das Hotel.
    Annas Augen weiteten sich, als sie das große Gaucho-Messer in meiner Hand entdeckte.
    «Das passiert, wenn man Fragen stellt, die niemand hören will», sagte ich. «Man schließt die Antworten weg.» Mit einer schnellen Bewegung hebelte ich das Vorhängeschloss auf.
    «Oje», sagte Anna und zuckte zusammen.
    Zu meinem Glück benutzten sie lausige Schlösser, die eine Rattemit einem Zahnstocher aufbekommen hätte. Ich stieß das Tor auf und betrat den Hof. Überall waren Grasbüschel und Jakaranda-Bäume durch den Beton gewachsen. Eine Windbö wehte eine Zeitung vor meine Füße. Ich hob sie auf. Es war eine zwei Monate alte Seite der
El Laborista
, eines peronistischen Blatts. Ich hoffte, dass seit diesem Zeitpunkt niemand mehr das Hotel de Inmigrantes betreten hatte. Sah jedenfalls alles danach aus. In keinem der sicher hundert Fenster brannte Licht, und das einzige Geräusch, das die Stille des Hofs durchdrang, war der Verkehr, der weit hinter uns über den Eduardo Moreno brauste. Ein Zug fuhr mit quietschenden Bremsen in

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