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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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bedeutete, dass früher bis zu fünftausend Menschen in diesem Gebäude untergebracht worden waren.
    «Meine armen Eltern», sagte Anna. «Ich hatte keine Ahnung, dass sie in einer so schlimmen Behausung untergebracht waren.»
    «Es ist nicht so schlimm. Glauben Sie mir, die Deutschen hatten da ganze andere Maßstäbe.»
    In den gemeinsamen Waschräumen zwischen den Schlafsälen waren sechzehn große Waschbecken, jedes so groß wie ein Wagenrad. Hinter dem letzten Waschraum entdeckte ich eine verschlossene Tür. Das Vorhängeschloss war neu, weshalb ich annahm, dass wir wahrscheinlich am richtigen Ort gelandet waren. Irgendjemand hatte es für nötig gehalten, das, was sich auf der anderen Seite der Tür befand, mit einem höherwertigen Schloss zu sichern. Neu oder nicht, es gab genauso leicht nach wie die anderen, als ich das Gaucho-Messer ansetzte. Ich stieß die Tür mit einem Fußtritt auf und leuchtete mit der Taschenlampe in den Raum dahinter.
    «Ich glaube, wir haben gefunden, wonach wir gesucht haben», sagte ich, obwohl ganz schnell klarwurde, dass die Arbeit gerade erst anfing. Vor uns standen Dutzende, Hunderte von Aktenschränken, in fünf Reihen, einer hinter dem anderen, wie Soldaten, die zum Appell angetreten waren. Es war unmöglich, einen Aktenschrank zu öffnen, ohne den davorstehenden zu verrücken.
    «Das dauert Stunden!», stöhnte Anna.
    «Sieht so aus, als würden wir am Ende doch noch die Nacht miteinander verbringen.»
    «Dann sollten wir das Beste daraus machen.» Sie stellte die Lampe auf den Boden, öffnete den Aktenschrank am Ende der ersten Reihe und deutete mit dem Kopf auf einen anderen Schrank daneben. «Ich sehe in diesem nach, und Sie nehmen den nächsten.»
    Ich blies den Staub weg. Ein Fehler – jetzt war alles staubig, wir husteten. Ich öffnete die obere Lade des Aktenschranks und blätterte die Akten durch. Die Namen begannen alle mit einem Z. «Zhabotinsky, Zhukow, Zinoview. Alles mit Z.   Wäre es nicht schön, wenn im nächsten dahinter die Ypsilons wären? Wie Yrigoyen, Youngblood und Yagubsky?»
    Ich warf die Lade krachend zu, und wir zerrten den Schrank nach vorn, bis wir an den dahinterstehenden kamen. Noch bevorich ihn ganz beiseitegeschoben hatte, war Anna am nächsten und hatte die obere Schublade aufgerissen. Sie hatte entweder mehr Kraft in den Armen, als ihr bewusst war, oder sie war so aufgeregt, dass sie nicht mehr merkte, wie schwer die Schränke waren. Sie riss die gesamte Schublade komplett aus dem Schrank. Das schwere Ding verfehlte unsere Zehen nur knapp, als es auf den Marmorboden krachte mit einem Geräusch, als wäre in einem tiefen Höllenloch eine Tür zugeschlagen worden.
    «Das sollten Sie nicht noch einmal tun», sagte ich. «Damit man es auch in der Casa Rosada hört.»
    «Tut mir leid», flüsterte sie.
    «Hoffen wir das Beste.»
    Anna kniete bereits über der herausgefallenen Schublade und untersuchte im Licht des kleinen Dynamos in ihrer Hand den Inhalt. «Sie hatten recht!», rief sie aufgeregt. «Es sind die Ypsilons!»
    Ich hob die Fahrradlampe vom Boden auf und richtete den Strahl auf ihre Hände.
    «Das glaube ich nicht!», sagte sie und zerrte eine dünne Akte aus dem Register. «Yagubsky!»
    Selbst im Halbdunkel konnte ich die Tränen in ihren Augen sehen. Ihre Stimme klang erstickt.
    «Sieht so aus, als könnten Sie doch Wunder vollbringen, heiliger Bernhard.»
    Dann klappte sie die Akte auf.
    Sie war leer.
     
    Anna starrte für einen langen Augenblick auf die leere Akte. Dann schleuderte sie sie wütend beiseite, ließ sich auf die Knie sinken und stieß einen gewaltigen Seufzer aus. «So viel zu Ihrem Wunder», sagte sie.
    «Es tut mir leid.»
    «Es ist nicht Ihre Schuld.»
    «Außerdem wollte ich sowieso kein Heiliger sein.»
    Nach einigen Minuten erhob ich mich und ging die leere Akte holen. Ich hob sie auf und untersuchte sie genauer. Sie war leer, keine Frage. Dennoch enthielt sie Informationen. Auf dem braunen Maniladeckel stand ein Datum.
    «Wann sagten Sie, sind Ihr Onkel und Ihre Tante verschwunden?»
    «Im Januar 1947.»
    «Diese Akte trägt das Datum März 1947.   Und sehen Sie, unter den Namen stehen die Worte
Judio
und
Judia
. Jude und Jüdin. Außerdem gibt es hier noch einen Stempelabdruck in roter Farbe.»
    Anna starrte auf den Abdruck. «D12», sagte sie. «Was ist D12?»
    «Im Stempelabdruck steht ein weiteres Datum und eine Unterschrift. Die Unterschrift ist unleserlich, aber das Datum lautet April

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