Das letzte Experiment
1947.»
«Schön, aber was ist D12?»
«Ich habe keine Ahnung.»
Ich ging zum Aktenschrank und nahm eine weitere Akte hervor. Es war die Akte eines gewissen John Yorath. Aus Wales. Sie enthielt zahlreiche Dokumente. Einzelheiten über das Einreisevisum, John Yoraths Krankengeschichte, seinen Aufenthalt im Hotel de Inmigrantes, eine Kopie des
cedula
, alles. Aber Yorath war nicht jüdisch. Und kein roter D1 2-Stempel .
«Sie waren hier!», sagte Anna aufgeregt. «Diese Akte beweist, dass sie hier waren!»
«Ich denke, das beweist außerdem, dass sie nicht mehr hier sind.»
«Was soll das bedeuten?»
Ich zuckte die Schultern. «Ich weiß es nicht genau. Aber es ist offensichtlich, dass sie verhaftet wurden. Und anschließend möglicherweise deportiert.»
«Ich sagte Ihnen bereits, wir haben nie wieder von ihnen gehört. Seit Januar 1947 nicht mehr.»
«Dann wurden sie vielleicht ins Gefängnis gebracht.» Ich gerietallmählich in Fahrt. «Sie sind die Juristin, Anna. Erzählen Sie mir, wie sind die Gefängnisse in diesem Land?»
«Warten Sie … da wäre zum einen das Gefängnis beim Parque Ameghino, gleich hier in der Stadt. Und das Gefängnis in Villa Devoto, wo Perón seine politischen Gegner einsperrt. Dann gibt es noch das San Miguel, in das gewöhnliche Straftäter kommen. Was gibt es noch? Ach ja, ein Militärgefängnis auf der Insel Marín García im Río de la Plata. Dort saß Perón im Oktober 1945, nach seiner Amtsenthebung durch das Militär. Ja, im Militärgefängnis von Marín García kann man eine ganze Menge Leute unterbringen.» Sie überlegte kurz. «Lassen Sie mich nachdenken. Es gibt kein Gefängnis, das weiter abseits gelegen ist als das in Neuquen am Fuß der Anden. Man hört eine Menge Geschichten über das Neuquen, aber es ist so gut wie nichts darüber bekannt, außer, dass die Leute, die dorthingeschickt werden, nie wieder zurückkehren. Meinen Sie wirklich, dass es möglich wäre? Dass sie im Gefängnis sind? Schon die ganze Zeit?»
«Ich weiß es nicht, Anna.» Ich deutete auf die Reihen von Aktenschränken vor uns. «Es wäre durchaus möglich, dass wir die Antwort in einem von den Schränken da finden.»
«Sie wissen wirklich, wie man einen schicken Abend mit einer Frau verbringt, wie?» Sie erhob sich, ging zum nächsten Schrank und öffnete die oberste Schublade.
Eine Stunde vor Sonnenaufgang hatten wir immer noch nichts gefunden. Wir waren erschöpft, und unserer Kleider standen vor Staub und Dreck. Wir entschieden uns, für diese Nacht Schluss zu machen.
Wir waren zu lange geblieben. Das Licht in der Eingangshalle brannte, als wir nach vorn kamen. Jemand hatte es offenbar eingeschaltet. Anna stieß einen leisen Schreckenslaut aus. Ich war selbst nicht gerade glücklich über die Entwicklung der Ereignisse. Insbesondere, weil die Person, die das Licht eingeschaltet hatte, jetzt mit einer Pistole auf uns zielte.
Nicht, dass diese Person für sich genommen Eindruck gemacht hätte. Er sah krank aus; als gehörte er eher in einen Sarg als hierher. Er war vielleicht eins siebzig groß und hatte strähniges graues Haar, Augenbrauen, die wie zwei Hälften eines Schnurrbarts aussahen, sowie die schmalen, heimtückischen Gesichtszüge einer Ratte. Er trug einen billigen Anzug, eine Weste, die aussah wie der Lappen aus den verschmierten Händen eines Mechanikers, und war ansonsten barfuß – keine Schuhe, keine Socken. In seiner Jackentasche steckte eine Flasche – wahrscheinlich sein Frühstück –, und im Mundwinkel ein Stängel aus herabhängender Asche, der wohl einmal eine Zigarette gewesen war. Als er sprach, fiel die Asche zu Boden.
«Was machen Sie hier?», nuschelte er, denn offenbar hatte er zu viel getrunken und keine Zähne mehr im Mund. Tatsächlich war da nur noch ein einziger Zahn in seinem vorstehenden Oberkiefer: ein Schneidezahn, der aussah wie der letzte übriggebliebene Pin beim Kegeln.
«Ich bin Polizeibeamter», sagte ich. «Ich musste dringend etwas in einer alten Akte nachsehen. Leider war nicht die Zeit, um den vorgeschriebenen Dienstweg einzuhalten.»
«Tatsächlich?», fragte er und nickte in Richtung Annas. «Und wie lautet ihre Geschichte?»
«Das geht Sie verdammt nochmal überhaupt nichts an!», schnarrte ich. «Hören Sie, werfen Sie einen Blick auf meinen Dienstausweis, ja? Es ist genau so, wie ich Ihnen bereits sagte.»
«Sie sind kein Polizist. Nicht mit diesem Akzent.»
«Ich bin bei der Geheimpolizei. SIDE. Ich gehöre zu
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