Das letzte Experiment
Messer in der Hand. Er ließ es los, und es fiel klappernd zu Boden. Er feuerte einen Schuss auf mich ab, ohne jedoch zu treffen. Ich spürte, wie die Kugel über meinen Kopf hinwegzischte. Ich sprang vorwärts und warf mich zu Boden. Doch statt, wie befürchtet, in den Lauf der Pistole zu blicken, sah ich, wie der Zahnlose mit einem Mal selbst auf dem Boden kauerte und Blut hustete, bevor er zur Seite kippte und sich zusammenrollte wie ein Fötus. Mein Blick fiel auf das schwere Messer, und ich sah das Blut an der Klinge. Offensichtlich war sie recht tief eingedrungen, bevor er das Messer gepackt und herausgerissen hatte.
Er drehte sich herum und versuchte erneut auf mich zu schießen, diesmal jedoch, ohne die andere Hand von der Messerwunde in der Seite zu nehmen.
«Pass auf!», kreischte Anna.
Doch ich war bereits über ihm und entwand ihm die Pistole, noch während sich der Schuss löste und in die Decke ging. Anna schrie. Ich versetzte ihm einen Schlag gegen die Schläfe, doch ihm war nicht mehr nach kämpfen. Ich entfernte mich auf Zehenspitzen von ihm, weil ich nicht unbedingt in die Blutlache treten wollte, die unter ihm rasch größer wurde. Er war noch nicht tot, doch ich sah, dass es keine Rettung für ihn gab. Die Klinge hatte eine Hauptschlagader durchtrennt. Wie ein Bajonett. Nach der Menge Blut auf dem Boden zu urteilen, hatte er nur noch wenige Minuten zu leben.
«Ist alles in Ordnung?», fragte ich Anna. Ich hob ihren Büstenhalter auf und reichte ihn ihr.
«Ja», flüsterte sie. Sie hielt sich die Brüste, und ihre Augen warenvoller Tränen. Sie starrte den Zahnlosen an, als hätte sie Mitleid mit ihm.
«Ziehen Sie Ihre Sachen wieder an», sagte ich zu ihr. «Rasch! Wir müssen weg von hier, auf der Stelle. Vielleicht hat jemand die Schüsse gehört.»
Ich schob seine Pistole in meinen Gürtel, steckte meine eigene Waffe ins Halfter, legte die Taschenlampen zurück in Annas Tasche und sammelte die Messer ein. Dann blickte ich mich suchend nach verräterischen Spuren um. Irgendetwas, das der Polizei Aufschluss über uns geben konnte. Ein Knopf, ein Haarbüschel, ein Ohrring – die kleinen Farbtupfer auf der Leinwand, wie bei Georges Seurat, auf die Ernst Gennat so versessen gewesen war. Doch es gab nichts. Nur den Zahnlosen. Er machte seine letzten schnaufenden Atemzüge. Ein Toter, der es noch nicht wusste.
«Was ist mit ihm?», fragte Anna, während sie ihr Hemd zuknöpfte. «Wir können ihn nicht einfach so hier liegen lassen.»
«Er ist erledigt», sagte ich. «Bis ein Krankenwagen an Ort und Stelle ist, ist er längst tot.» Ich nahm sie beim Arm und führte sie hastig zur Tür, wo ich das Licht ausschaltete. «Mit ein wenig Glück haben die Ratten sämtliche Beweise vernichtet, bevor ihn jemand findet.»
Anna wand sich aus meinem Griff und schaltete das Licht wieder ein. «Ich hab Ihnen gesagt, dass ich Ratten nicht mag.»
«Vielleicht wollen Sie eine Nachricht im Morsealphabet absetzen, wo Sie gerade so schön mit dem Licht spielen», sagte ich. «Damit auch noch der Blindeste sieht, dass jemand hier draußen ist.» Doch ich ließ das Licht brennen.
«Er ist trotz allem ein Mensch!», sagte sie, indem sie sich umwandte und zu dem Zahnlosen am Boden ging. Sie versuchte nicht in das Blut zu treten, als sie in die Hocke ging, nur um mich hilflos den Kopf schüttelnd anzusehen, als bettelte sie um einen Tipp, was sie als Nächstes tun sollte.
Der Zahnlose zuckte noch ein paarmal, dann lag er still.
«Das war nicht mein Eindruck», sagte ich.
Ich ging zu ihr, kniete mich neben ihr hin, drückte die Finger fest unter sein Ohr und versuchte wider besseres Wissen den Puls zu ertasten.
«Nun?»
«Er ist tot», sagte ich.
«Sind Sie sicher?»
«Was soll ich tun – einen Totenschein ausstellen?»
«Der arme Mann!», flüsterte sie. Dann bekreuzigte sie sich, was seltsam war angesichts der Tatsache, dass sie ja Jüdin war. «Ich kann nur für mich selbst reden, aber ich bin froh, dass der arme Mann tot ist», sagte ich. «Der arme Mann stand nämlich im Begriff, Sie zuerst zu vergewaltigen und dann zu töten. Allerdings nicht, ohne vorher mich zu töten. Der arme Mann hat es herausgefordert, wenn Sie mich fragen. Und jetzt, wenn Sie fertig sind mit Ihrer Trauer um den armen Mann, würde ich gern mit Ihnen von hier verschwinden, bevor Polizisten oder irgendwelche Freunde des armen Mannes hier auftauchen und sich fragen, ob diese Mordwaffe, die ich in den Händen halte, mich zu einem
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