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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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reichte mir die Schlüssel. «Ich möchte, dass Sie ein paar Passagiere aufsammelnund auf dem schnellsten Weg hierher bringen. Aber lassen Sie sie auf gar keinen Fall vor dem Hotel aussteigen. Fahren Sie durch das Tor zum Lieferanteneingang. Ich werde dort auf Sie warten.»
    «Dürfte ich fragen, wer diese Leute sind, Herr Adlon?»
    «Sie dürfen. Bernhard Weiß und seine Familie. Jemand hat ihm einen Tipp gegeben, dass die Nazis heute Nacht zu ihm nach Hause kommen wollen, um ihn zu lynchen. Glücklicherweise ist Bernhard gut befreundet mit Tschiang Kai-schek, und dieser hat sich bereiterklärt, Weiß und seiner Familie Unterschlupf zu gewähren. Er hat mich vor wenigen Minuten angerufen und mich gefragt, ob ich ihm helfen könnte. Selbstverständlich habe ich mich bereiterklärt, ihn hier aufzunehmen. Und ich bin davon ausgegangen, dass Sie ebenfalls bereit sind zu helfen.»
    «Selbstverständlich. Aber wäre es nicht sicherer für Weiß, wenn er in der Botschaft bleibt?»
    «Vielleicht. Aber hier hat er es bequemer, meinen Sie nicht? Davon abgesehen sind wir es gewöhnt, dass Gäste in nahezu völliger Anonymität in unseren Prominentensuiten wohnen. Nein, wir werden uns hier um ihn kümmern, und zwar so lange es nötig ist.»
    «Ich bin sicher, dass die Nazis einen Umsturz planen», sagte ich. «Wahrscheinlich werden sie als Nächstes das Kriegsrecht verhängen.»
    «Ich denke, da könnten Sie recht haben. Tragen Sie eine Waffe bei sich?»
    «Nein, Herr Adlon, aber ich kann eine holen.»
    «Dazu ist nicht die Zeit. Nehmen Sie meine.» Er zog eine Schlüsselkette hervor und entriegelte den Tresor. «Das letzte Mal habe ich diese Waffe beim Spartakusaufstand 1919 aus dem Safe genommen. Aber sie ist gut geölt.» Er reichte mir eine Mauser C96 und eine Schachtel Munition. Dann nahm er eine lederne Aktentasche und leerte den Inhalt auf den Schreibtisch. «Stecken Sie die Mauser hier hinein. Und seien Sie bloß vorsichtig, Bernie. Ich glaube, heute ist keine Nacht, in der man stolz ist, ein Deutscher zu sein.»
    Louis Adlon hatte recht. Die Straßen Berlins waren voller marodierender S A-Banditen . Sie sangen ihre Lieder und schwenkten ihre Fahnen, als wäre das Feuer ein Anlass zum Feiern. Ich sah, wie diese Kerle die Schaufenster eines jüdischen Geschäfts in der Nähe des Zoos zerschmetterten. Man brauchte nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was geschehen würde, wenn sie auf einen alten Rabbi trafen oder einen glücklosen Idioten mit einer Leninmütze und einer roten Fahne am Revers. Überall waren Polizeiwagen und gepanzerte Fahrzeuge, doch ich ging nicht davon aus, dass ihre Aufgabe darin bestand, Juden und Kommunisten zu schützen. Die Schupo-Leute unternahmen außerdem herzlich wenig, um der Unordnung in der Stadt Einhalt zu gebieten. Ich war heilfroh, dass ich nicht mehr bei der Polizei war.
    In dieser Nacht war es in gewisser Weise von Vorteil, ein Chinese zu sein. Als ich vor der Botschaft ankam, sah ich, dass niemand, absolut niemand sich auch nur ein bisschen für das interessierte, was dort vor sich ging.
    Ich ließ den Motor laufen und die Türen offen, als ich aus dem Wagen stieg und an der Tür läutete. Ein Chinese öffnete und erkundigte sich, wer ich sei. Ich sagte ihm, dass Louis Adlon mich geschickt hatte. An diesem Punkt flog die große Doppeltür zu einem Hinterzimmer im Erdgeschoss auf, und ich sah Isidor und seine Familie mitsamt Gepäck dort warten. Sie sahen mich nervös an. Isidor schüttelte mir die Hand und nickte schweigend. Wir redeten nicht viel. Es war nicht die Zeit dazu. Ich packte ihre Koffer und brachte sie in den Lieferwagen. Als ich mich überzeugt hatte, dass die Luft rein war, winkte ich meine Passagiere aus der Botschaft herbei, ließ sie einsteigen und warf hinter ihnen die Tür des Lieferwagens ins Schloss.
    Wieder beim Adlon angekommen, fuhr ich durch zum Lieferanteneingang, wo Louis Adlon wie versprochen wartete. Max, der Portier, lud die Habseligkeiten der Familie Weiß auf einen Gepäckwagen und verschwand in einem Lastenaufzug. Er blickte nicht malauf wegen eines Trinkgelds. Alles war eigenartig an jener Nacht. Wir führten die Familie Weiß zu einem anderen Lastenaufzug und brachten sie in die beste Suite im gesamten Hotel. Das war typisch für Louis Adlon, und ich war sicher, dass Isidor die Bedeutung dieser Geste sehr wohl zu schätzen wusste.
    In der Suite waren die schweren Vorhänge bereits zugezogen, und im Kamin brannte ein wärmendes Feuer. Isidors

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