Das letzte Experiment
und ich schlief den Schlaf von Jakob auf dem Tempelberg. Irgendetwas Jüdisches auf jeden Fall.
Die Gefängniszellen im Keller des Münchner Polizeipräsidiums waren früher einmal ein Kloster der Augustinermönche gewesen. Sie müssen harte Männer gewesen sein, diese Augustinermönche. Meine Zelle war mit einer harten Pritsche ausgestattet und einer Strohmatratze darüber, die ungefähr so dick war wie eine Decke. Die Decke selbst bestand aus dünner Luft. Hiob oder der heiligeHieronymus hätten sich dort unten äußerst wohl gefühlt. Es gab eine offene Toilette ohne Sitz und kein Fenster in der glatten, gefliesten Wand. Die Zelle war heiß und stickig, und ich war verschwitzt und stank. «Liebe den Sünder und hasse die Sünde», hat der heilige Augustinus gesagt. Er hatte leicht reden. Er musste nie eine Nacht in einer Zelle unter dem Münchner Polizeipräsidium verbringen.
Das Licht brannte ununterbrochen, und zwar nicht für den Fall, dass man Angst hatte vor der Dunkelheit. Nach einer Weile hatte ich kein Gefühl mehr für die Tageszeit. Ein paar Tage hintereinander in diesen Zellen, und man war bereit, mehr oder weniger alles zu tun, was sie von einem verlangten, nur um den Himmel wieder zu sehen. Das ist jedenfalls die Theorie. Und nach einer Weile, die mir wie eine Woche erschien, in Wirklichkeit jedoch wahrscheinlich nicht länger als zwei oder drei Tage gedauert hatte, kam ein Arzt, um nach mir zu sehen. Ein echter Albert Schweitzer mit einem gewaltigen Walrossbart und mehr weißen Haaren als Liszts Großmutter. Er untersuchte meine Rippen und fragte, woher die Schwellungen stammten. Ich sagte ihm, ich wäre im Schlaf von der Pritsche gefallen.
«Haben Sie Schmerzen?»
«Nur, wenn ich lache – was Gott sei Dank nicht häufig der Fall ist, seit ich hier bin.»
«Möglicherweise sind zwei Ihrer Rippen gebrochen», sagte der Arzt. «Wir müssen Sie röntgen.»
«Danke, aber ich brauche keine Röntgenaufnahme. Ich brauche eine Zigarette.»
Er ging weg. Ich rauchte noch immer, als ein kleiner, blonder Bursche erschien und nach meinen Klamotten fragte.
«Ich glaube nicht, dass sie Ihnen passen», sagte ich, aber ich zog mich trotzdem aus. Ich wollte nur noch nach Hause.
«Wir lassen Ihre Sachen reinigen», sagte er, indem er die Kleidung an den Wachoffizier weitergab. «Sie sollten sich ebenfalls waschen– falls Sie imstande sind dazu. Am Ende des Gangs gibt es eine Dusche, Seife und Rasierer.»
«Ein wenig spät für Gastfreundschaft, meinen Sie nicht?» Trotzdem ging ich duschen und rasierte mich.
Als ich fertig war, reichte mir der kleine Mann eine Decke und führte mich in ein Vernehmungszimmer, wo ich auf meine Kleidung wartete. Wir nahmen einander gegenüber an den Kopfenden eines Tisches Platz. Er öffnete ein ledernes Zigarettenetui und schob es vor mich hin. Dann brachte mir jemand eine Tasse mit süßem, heißem Kaffee. Er schmeckte wie Ambrosia.
«Mein Name ist Kommissar Wowereit», stellte er sich vor. «Man hat mich angewiesen, Sie dahingehend zu unterrichten, dass keine Anzeige gegen Sie erstattet wurde und dass Sie gehen können, wann es Ihnen beliebt.»
«Na, das ist wirklich sehr großzügig von Ihnen», sagte ich und nahm eine von den angebotenen Zigaretten. Er gab mir mit einem Streichholz Feuer und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Er hatte schmale, zierliche Hände. Sie sahen nicht aus, als hätte er je eine Tomate geworfen, geschweige denn mit der Faust zugeschlagen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie er mit diesen Händen zu der rauen Münchner Polente passte. «Sehr großzügig», wiederholte ich. «Vor allem, wenn man bedenkt, dass ich derjenige war, der zusammengeschlagen wurde.»
«Ein Bericht bezüglich des Zwischenfalls wurde bereits Ihrem neuen Polizeipräsidenten und seinem Stellvertreter übermittelt.»
«Was meinen Sie mit meinem ‹neuen› Polizeipräsidenten und seinem Stellvertreter? Wovon zum Teufel reden Sie, Wowereit?»
«Natürlich. Bitte entschuldigen Sie. Sie können es ja nicht wissen.»
«
Was
wissen?»
«Schon mal von Altona gehört?»
«Ja. Ein Drecksloch außerhalb von Hamburg, das dem Namen nach zu Preußen gehört.»
«Viel wichtiger als das ist, dass Altona eine kommunistische Gemeinde ist. Am Tag Ihrer Ankunft in München hat eine Gruppe uniformierter Nazis eine Parade in Altona abgehalten. Es gab Auseinandersetzungen. Eine Massenschlägerei, die in einen Aufstand endete. Achtzehn Personen wurden getötet und mehrere hundert
Weitere Kostenlose Bücher