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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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nach München gekommen sind. Aber Pauls offene Fälle sind alle nach oben gegangen. An das Büro des zuständigen Staatsrates. Wenn ein Polizeibeamter ermordet wird, gehen wir normalerweise davon aus, dass es mit einem der Fälle zu tun hat, die er gerade bearbeitet. Ich bezweifle ernsthaft, dass Sie in nächster Zeit Einsicht in diese Akten nehmen können. Es könnte Wochen dauern, bis sie wieder freigegeben werden.»
    Jetzt war ich an der Reihe, mir auf die Lippe zu beißen. «Ich verstehe. Verraten Sie mir eines – haben Sie mit Paul gearbeitet?»
    «Bis vor einer Weile, ja. Allerdings bin ich über seine gegenwärtigen Fälle nicht im Bilde. In jüngster Zeit hat er hauptsächlich allein gearbeitet. Es war ihm lieber so.»
    «Es war ihm lieber so, oder war es seinen Kollegen lieber so?»
    «Ich denke, das ist ein wenig ungerecht, Herr Kommissar.»
    «Ist es das?»
    Schramma antwortete nicht. Er steckte sich eine Zigarette an, schnippte das Streichholz aus dem offenen Fenster und setzte sich auf die Kante eines Schreibtischs, von dem ich annahm, dass es seiner war. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums verhörte ein Beamter mit einem Gesicht wie Max Schmeling einen Verdächtigen. Jedes Mal, wenn er eine Antwort erhielt, blickte er drein, als bereitete sie ihm Schmerzen – als hätte Jack Sharkey ihn unter der Gürtellinie getroffen. Es war eine geschickte Technik. Ich hatte das Gefühl, dass der Beamte wie Schmeling wegen Disqualifikation des Gegners gewinnen würde. Andere Beamte kamen und gingen. Einigewenige von ihnen waren laut und unbekümmert und trugen helle Kleidung. In Berlin trugen wir alle schwarze Armbinden, wenn ein Kollege ermordet worden war. Nicht so in München. Hier sah alles danach aus, als wäre eine andere Art von Armband angebrachter – ein rotes, mit einem schwarzen Hakenkreuz darauf. Jedenfalls gewann ich nicht den Eindruck, als würde irgendjemand dem toten Paul Herzefelde eine Träne nachweinen.
    «Könnte ich seinen Schreibtisch sehen?», fragte ich.
    Schramma erhob sich zögernd, und wir gingen zu einem grauen Schreibtisch aus Stahlrohr in einer abgelegenen Ecke des Büros, der umgeben war von einer Wand aus Aktenschränken und Bücherregalen – ein richtiges Ein-Mann-Ghetto. Der Schreibtisch war leer und aufgeräumt, doch seine Fotografien hingen noch an der Wand. Ich beugte mich vor, um einen genaueren Blick darauf zu werfen. Ein Bild zeigte Paul Herzefelde mit Frau und Familie. Paul in Uniform und Orden in einem anderen. Neben dem Foto die schwachen Umrisse eines ausradierten Graffitos: Ein Davidsstern und die Worte «Juden raus». Ich fuhr die Umrisse mit dem Zeigefinger nach, um Schramma zu demonstrieren, dass ich es gesehen hatte.
    «Was für eine miese Art, einen Mann zu ehren, der im Weltkrieg mit einem Ritterkreuz mit Eichenlaub ausgezeichnet wurde», sagte ich laut und drehte mich zu den übrigen Ermittlern im Raum um. «Drei Kugeln in den Rücken und Wandmalereien von Höhlenmenschen.»
    Alle schwiegen. Das Schreibmaschinenklappern verstummte. Selbst die Kinder auf dem Schulhof draußen schienen vorübergehend ihr Spiel einzustellen. Alle starrten mich an, als wäre ich der Geist von Walther Rathenau.
    «Und? Wer hat es getan? Wer hat Paul Herzefelde ermordet? Weiß es jemand?» Ich wartete. «Kann es sich jemand denken? Schließlich sind Sie doch alle Ermittler und Detektive.»
    Stille.
    «Schert es überhaupt irgendjemanden, wer Paul Herzefelde ermordethat?» Ich starrte die Beamten der Münchner Kripo herausfordernd an, während ich darauf wartete, dass irgendjemand etwas erwiderte. Ich blickte auf meine Uhr. «Verdammt, ich bin noch keine halbe Stunde hier, und ich könnte Ihnen schon verraten, wer ihn getötet hat. Es waren die verdammten Nazis, Herrgott nochmal! Die elenden Nazis haben ihn hinterrücks ermordet. In den Rücken geschossen. Vielleicht sogar die gleichen verdammten Nazis, die für die Wandmalerei hinter seinem Schreibtisch verantwortlich sind, wer weiß?»
    «Fahr nach Hause, du preußische Sau!», rief jemand.
    «Ja, verpiss dich nach Berlin, du dämlicher Piefke!»
    Sie hatten recht. Natürlich. Es war höchste Zeit, zurück nach Berlin zu fahren. Schon jetzt sahen die Männer der Berliner Kripo aus wie ein echter Fortschritt in der menschlichen Evolution, verglichen mit den Münchner Neandertalern. Nach allem, was ich gehört hatte, war München Hitlers Lieblingsstadt, und jetzt wusste ich, warum.
    Ich verließ das Polizeipräsidium durch ein

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