Das letzte Hemd
das
vielleicht einen Tick zu durchkomponiert, zu gestylt wirkte, als habe man das
Haus gleich samt Einrichtung übernommen. Wahrscheinlicher war, dass ein
Innenarchitekt oder Designer hinzugeholt worden war. Becker fand die
Vorstellung, sich von einem Fremden vorschreiben zu lassen, wo er die Schränke – und auch noch, welche Schränke – hinstellen sollte, absurd. Allerdings besaß
Becker auch noch so ziemlich dasselbe Mobiliar wie beim Einzug.
Frau Strüssendorf bemerkte seine Blicke und interpretierte sie
prompt falsch. »Interessieren Sie sich für Architektur und Design, Herr
Kommissar?«
Becker überlegte einen winzigen Moment, ob er Interesse heucheln
sollte, entschied sich aber angesichts des zu erwartenden ellenlangen und
stinklangweiligen Vortrags und der damit zusammenhängenden Überstunden für die
Wahrheit. »Wenn ich ehrlich bin, nein.«
Sie sah ihn an, eher amüsiert als beleidigt, und sagte nichts.
Becker räusperte sich. »Also, Frau Strüssendorf, ich will Sie gar
nicht lange aufhalten, meine Kollegen aus Düsseldorf haben ja schon mit Ihnen
gesprochen, aber ein paar Fragen habe ich dann doch noch.« Sein Blick fiel auf
ein silbergerahmtes Foto des toten Strüssendorf mit schwarzer Trauerschleife.
»Äh, zunächst natürlich mein herzliches Beileid, das muss für Sie ganz schön
schwer sein, gerade jetzt …« Becker deutete ziellos ins Zimmer, als ginge es um
die Frage nach einem neuen Bezug für die cremefarbene Sitzgruppe.
Frau Strüssendorf sagte immer noch nichts, setzte sich aber auf
einen sehr geraden und unbequem aussehenden Designerstuhl. Wahrscheinlich hatte
sie Angst, in ihrem Zustand ohne Hilfe nicht mehr von der Sitzgruppe
hochzukommen. Sie deutete auf den Stuhl ihr gegenüber, Becker setzte sich und
bekam gleich die Bestätigung, was die Bequemlichkeit des Sitzmöbels betraf –
beziehungsweise deren gänzliches Fehlen.
Irgendwie irritierte ihn, dass sie anscheinend völlig unberührt vom
Tod ihres Mannes war – oder ihre Trauer sehr gut kaschieren konnte. Er
blätterte in seinem Notizbuch. Natürlich hatte er sich im Vorfeld über sie
informiert, hatte sie gegoogelt und die Unterlagen der Düsseldorfer Kollegen
studiert. Sie war aus gutem Haus, wie man so schön sagte, kam aus einer ganzen
Politikerfamilie, ja fast schon einer kleinen Dynastie. Ihr Vater war viele
Jahre Fraktionsvorsitzender im nordrhein-westfälischen Landtag gewesen,
allerdings bei einer anderen Partei als ihr Mann, und saß jetzt in mehreren
Aufsichtsräten diverser Firmen und Banken. Ihr Onkel hatte eine steile
Parteikarriere gemacht und war dann Ministerpräsident geworden, in einem der
Ost-Bundesländer, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen – Becker schmiss die immer
durcheinander. Allen Strüssendorfs sagte man nach, dass sie immer nach mehr
trachteten, nach mehr Einfluss, mehr Macht, sicher auch mehr Geld. Ihr Onkel
war gleich nach der Wende in den Osten gegangen und hatte dort unbestritten
viel für den Aufbau getan, aber auch genug für den eigenen Vorteil. Dies war
wohl auch ein Grund, weshalb er für die ganz hohen Politehren – Bundeskanzler,
Bundespräsident – nicht mehr in Frage kam. Zu groß war die Gefahr, dass etwas
Belastendes herauskam. Allerdings stand es auch mit seiner Gesundheit nicht
mehr zum Besten.
Auch Cordula Strüssendorf hatte man zu Beginn ihrer politischen
Karriere einiges zugetraut, aber dann war sie zugunsten ihres Mannes in den
Hintergrund zurückgetreten. Matthias Strüssendorf hatte man Ambitionen aufs
Kanzleramt nachgesagt, aber dafür war er wohl in der falschen Partei gewesen.
Und jetzt war er tot.
Becker räusperte sich noch einmal und wollte gerade seine erste
Frage stellen, als Cordula Strüssendorf ihm zuvorkam.
»Sie haben sich doch bestimmt über mich informiert, oder?«
Becker klappte hastig die Seiten mit den Notizen aus Wikipedia zu.
Er nickte.
Sie lächelte ihn an. »Glauben Sie nicht alles, was Sie da lesen.«
Becker nickte noch einmal und begann mit seiner Befragung.
»Vielleicht erzählen Sie einfach kurz chronologisch, was Sie an dem Tag gemacht
haben, äh, dem …« Er klappte das Notizbuch wieder auf, um das Datum abzulesen.
Sie winkte ab. »Ich weiß sehr genau, welchen Tag Sie meinen. Ja, wie
war das? Mein Mann ist gegen acht Uhr morgens nach Düsseldorf gefahren, wie
jeden Morgen, wenn er zu Hause war. Abends war er in diese Fernsehtalkshow
eingeladen. Ich war nachmittags noch bei meinem Gynäkologen, Privatpraxis
Professor Solbach,
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