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Das letzte Kind

Das letzte Kind

Titel: Das letzte Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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sah gemähtes Gras und Reihen von behauenen Steinen.
    Er duckte sich wieder. »Das ist ein Friedhof.«
    »Was?«
    Johnny hielt den Revolver vor der Brust und spürte, wie sein Herz gegen den Stahl schlug. Sein Atem stockte. »Das ist ein gottverdammter Friedhof.«
    »Ist er da drin?«
    Johnny nickte mit weit aufgerissenen Augen. »Ja«, wisperte er kaum hörbar. Jack fuhr sich mit der Zunge über die kalkweißen Lippen. »Wir müssen abhauen.«
    »Er sitzt bloß da.«
    »Und was macht er?«
    Johnny schob sich an der Mauer hinauf. Der Friedhof war klein. Vielleicht vierzig Grabsteine. Eine riesige Eiche stand in der Mitte, in den beiden hinteren Ecken blühten Magnolien. Die Grabsteine standen in Reihen nebeneinander, manche silbergrau, andere schwarz, alle mit Flechten und Moos überzogen.
    Levi Freemantle saß in der Mitte, die Beine vor sich ausgestreckt. Seine Kleider waren dreckig und zerrissen. An seinen Knien und in den Falten seiner Hände war Blut, und an der Seite seines Hemdes und der Hose leuchtete ein großer Fleck. Sein Fuß und der Knöchel waren so dick geschwollen, dass sie aussahen wie ein einziges, ineinander verschmolzenes Anhängsel. Sein Finger war von Johnnys Biss entzündet und mit einem gelb verfärbten Stück Stoff umwickelt. Die Haut spannte sich so hart, dass sie glänzte. Er hatte eine Schaufel auf dem Schoß. Neben ihm stand ein Sarg.
    »Was macht er?«
    Johnny antwortete nicht sofort. Das Licht war so hell, dass er jede Einzelheit sehen konnte: Streifen von silbernem, bleigrau verschlissenem Klebeband, getrockneter Schlamm an dem Sarg, Schrammen im Holz, Wasserflecken. Freemantles Knie waren fast bis auf den Knochen aufgeschürft. Sein verwüstetes Gesicht glänzte feucht. Etwas ragte aus seiner Seite. Johnny rutschte wieder herunter und presste sich mit dem Rücken an die Mauer. »Er begräbt eine Leiche.«
    »Oh, Scheiße.«
    »Und heult dabei wie ein Mädchen aus der Fünften.«
    Jack schloss die Augen. Johnny hob den Revolver und drückte die Trommel an die Stirn. Der Geruch von Waffenöl drang ihm in die Nase, und seine Lippen bewegten sich lautlos: Der Revolver ist Macht. Ich habe den Revolver. Der Revolver ist Macht. Ich habe den Revolver.
    Er wollte aufstehen, aber Jack zog ihn wieder herunter. »Tu das nicht.« Jack hielt ihn fest und wiederholte flehentlich: »Tu das nicht, Mann.«
    »Fuck, was ist los mit dir, Jack?« Johnny riss sich los. »Glaubst du, das ist ein Spiel? Glaubst du, dieses ganze Jahr war ein Spiel? Nur deshalb sind wir hergekommen.«
    Jack stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Er zitterte am ganzen Körper, nickte aber und ließ die Hand sinken. »Okay, Johnny.«
    »Ich hab keine Wahl.«
    »Ich hab gesagt, okay.«
    Die stumme, fassungslose Panik im Gesicht seines Freundes hielt ihn eine Sekunde lang fest. Dann richtete er sich auf und hob den Revolver, wie sie es im Kino taten; er umfasste den Griff mit beiden Händen und hielt den Lauf so gerade und ruhig, wie er konnte. Levi Freemantle stand mit der Schaufel in der Hand auf, aber er sah Johnny nicht. Mit gesenktem Kopf starrte er die flache Kerbe an, die er in die Erde gegraben hatte.
    Sein geschwollener Fuß berührte den Boden nicht; die Schaufel trug einen großen Teil seines Gewichts. Tränen strömten über sein Gesicht, und Johnny sah zu, wie Freemantle weiter versuchte, ein Loch für den Sarg zu graben. Er stand auf dem gesunden Fuß und benutzte den verletzten, um die Schaufel in die Erde zu treiben, aber sein Gesicht war schmerzverzerrt. Er verlagerte sein Gewicht auf den andern Fuß und knickte sofort ein.
    Er fiel hin.
    Kam mühsam wieder hoch.
    Versuchte es wieder.
    Johnny öffnete das Tor und betrat den Friedhof. Er war fünf Meter entfernt, dann drei, doch Freemantle bemerkte ihn nicht.
    Johnny riskierte einen Blick auf den Sarg. Er war klein, ein Kindersarg. Er kam noch näher, und Freemantle sah auf. Seine nassen Augen gingen von Johnny zurück zu der kahlen Stelle am Boden.
    Er tat einen hinkenden Schritt, hob die Schaufel und stieß sie knirschend in die Erde. Johnny sah Trauer und Schmerz und Dreck und Blut und etwas wie ein Stück Holz, das aus der Seite des Mannes ragte. »Aufhören«, sagte Johnny.
    Freemantle gehorchte und hob die Hand, die Handfläche nach oben gewandt. Er zeigte auf die Stelle, an der er den Boden aufgekratzt hatte, und erst dann blickte er auf den Revolver. Er betrachtete ihn lange, als wisse er nicht genau, was das war oder warum es auf seine Brust

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