Das letzte Kind
Organen. »Levi Freemantle«, sagte Moore. »Männlich, dreiundvierzig Jahre. Starke Muskulatur. Massive Infektion. An der Grenze zur Unterernährung. Sehen Sie das hier?« Er berührte das Bild. »Hier haben Sie ihn getroffen. Hier ist die Kugel eingedrungen. Schulterblattfraktur an der Austrittstelle. Sehen Sie?«
»Ich wollte ihn nicht töten.«
»Sie haben ihn nicht getötet.«
»Wie meinen Sie das?«
Moore überging die Frage. »Das hier.« Mit dem kleinen Finger strich er an einer rauen weißen Linie entlang. »Das ist ein Ast, irgendein Hartholz. Eiche, Ahorn. Nicht mein Gebiet. Der Mann hat sich irgendwie aufgespießt. Der Ast war spröde, aber nicht morsch. Spitz gezackt. Sehen Sie die scharfen Ränder, hier und hier. Auf dem Bild ist es schwer zu erkennen, aber der Ast ist ungefähr doppelt so dick wie Ihr Zeigefinger. Vielleicht anderthalb Daumen. Er ist hier eingedrungen, dicht unter der untersten Rippe auf der rechten Seite, und dann in einem Winkel weiter hinein, sodass er die Leber völlig durchbohrt, mehrere Organe verletzt und ein zwei Zentimeter großes Loch in den Dickdarm gerissen hat.«
»Ich verstehe nicht.«
»Ein massives Trauma, Detective.«
»Okay.«
Moore trat zurück und kam wieder heran. Er hob beide Hände, und Hunt spürte seine Frustration. »Das ist eine tödliche Verletzung. Ohne eine sofortige Operation unbedingt tödlich. Er hätte schon tagelang tot sein müssen, bevor Sie auf ihn geschossen haben.« Wieder hob Moore die Hände. »Ich habe keine Erklärung dafür.«
Ein kalter Finger berührte Hunt zwischen den Schulterblättern, und es war, als spüre er das Gewicht des Krankenhauses über sich. Er dachte an Moores eifrigen Blick, an seine Frage nach gewaltigen Geheimnissen. »Wollen Sie damit sagen, es ist ein Wunder?«
Moore schaute die Röntgenaufnahme an, und die Lichttafel warf einen kalten weißen Schimmer auf sein Gesicht. Er legte drei Finger auf den scharfzackigen Ast, der Freemantles Seite durchbohrt hatte. »Ich sage nur, ich kann es nicht erklären.«
ZWEIUNDSECHZIG
D as Jugendamt kam am nächsten Tag, um Johnny abzuholen. Er hielt die Hand seiner Mutter. An der offenen Wagentür warteten zwei Sozialarbeiterinnen. Die Hitze waberte über dem Parkplatz.
Auf der vierspurigen Straße rasten die Autos vorbei. »Du tust meinen Fingern weh«, flüsterte Johnny.
Seine Mutter lockerte ihren Griff und wandte sich an Hunt.
»Gibt es keine andere Möglichkeit?«
Hunt war genauso bedrückt. »Nach allem, was passiert ist. Diese Gewalttaten. So viel Presse. Sie haben keine Wahl.« Er beugte sich hinunter und sah Johnny in die Augen. »Es ist nur für eine Weile. Ich werde mich für deine Mutter einsetzen. Wir bringen das in Ordnung.«
»Versprochen?«
»Ja.«
Johnny schaute zum Wagen hinüber, und eine der Frauen lächelte ihn an. Er umarmte seine Mutter. »Ich krieg das schon hin«, sagte er. »Es wird so sein, als müsste ich eine Zeit lang ins Gefängnis.«
Er stieg in den Wagen. Und einen Monat lang war es tatsächlich so.
Als wäre er im Gefängnis. Die Familie, in deren Obhut man ihn gab, war freundlich, aber distanziert. Sie behandelten ihn, als könnte ein hartes Wort ihn zerbrechen, und sie waren entschlossen, so zu tun, als sei nichts Ungewöhnliches passiert. Sie blieben stets höflich, aber abends ertappte er sie dabei, dass sie die Fernsehnachrichten anschauten und die Zeitungen lasen, und dann schüttelten sie die Köpfe und fragten einander: »Was mag so etwas aus einem Jungen machen?« Wahrscheinlich, dachte Johnny, schlossen sie nachts ihre Schlafzimmertür ab, und er stellte sich vor, was für Gesichter sie machen würden, wenn er einmal spät nachts am Türknauf rüttelte.
Das Gericht schickte Johnny zu einem Psychologen. Also ging er hin, aber der Kerl war ein Idiot, und Johnny erzählte ihm, was er hören wollte. Er schilderte ihm erfundene Träume von häuslicher Langeweile und behauptete, er schlafe jede Nacht durch. Er schwor, dass er nicht mehr an die Macht unsichtbarer Dinge glaube, nicht an Totems und Magie und dunkle Vögel, die die Seelen der Toten stehlen. Er habe nicht das Verlangen, jemanden zu erschießen oder sich selbst oder andere zu verletzen. Ehrlich äußerte er seine Gefühle, wenn er über den Tod seines Vaters und seiner Schwester sprach. Das war Trauer, ein nackter, herzzerreißender Verlust. Und er liebe seine Mutter. Auch das war die Wahrheit. Johnny beobachtete, wie der Psychologe nickte und sich Notizen machte.
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