Das letzte Kind
sich auf den Lehmboden. Der Mann streckte die Hand aus, und Johnny nahm sie. »Das wird schon wieder.«
Aber der Mann hörte nicht zu. Mit überraschender Kraft zog er den Jungen näher zu sich heran. »Ich hab sie gefunden.« Johnny schaute konzentriert auf seine Lippen. »Wen haben Sie gefunden?«
»Das entführte Mädchen.«
Ein kalter Schrecken überkam Johnny. Der Körper des Mannes krampfte sich zusammen, und Blut schoss aus seinem Mund auf Johnnys Hemd, aber Johnny bemerkte es kaum. »Wen?«, fragte er, und dann lauter noch einmal: »Wen?«
»Ich hab sie gefunden ...«
Über ihnen lief der große Motor im Leerlauf. Der verletzte Mann verdrehte die Augen nach oben und hatte offensichtlich Angst. Er zog Johnny so dicht an sich heran, dass diesem der Geruch von Blut und zerquetschten Organen in die Nase stieg. Die Augenwinkel des Mannes legten sich in Falten, und Johnny hörte nur ein kurzes Flüstern.
»Lauf weg ...«
»Was?«
Der Mann umklammerte ihn noch fester. Johnny hörte das Grollen und Spucken des großen Motors, und dann ein Geräusch wie von Stahl auf Beton. Die Hand des Mannes krampfte sich so sehr zusammen, dass seine Nägel sich in Johnnys Haut gruben.
»Um Gottes willen —«
Ein neuer Krampf packte den Mann, seine Wirbelsäule erstarrte, und der gebrochene Arm zuckte. »Lauf weg ...« Johnny schaute an ihm hinunter, sah einen Stiefelabsatz, der sich in den Boden bohrte, und etwas klickte in seinem Kopf.
Das war kein Unfall.
Er hob den Kopf und sah oben auf der Brücke einen Buckel, der sich bewegte: einen Kopf und eine Schulter, einen Mann, der vorn um den Wagen herumging. Ein Schattenmann, eine Silhouette. Johnny fühlte Blut an seinen Händen, klebrig nass und kalt.
Kein Unfall.
Der Mann zuckte, sein Kopf schlug auf den Boden, und der Stiefelabsatz trommelte auf der Erde. Johnny versuchte seine Hand zu befreien und musste sie mit aller Kraft wegreißen. Geräusche auf der Brücke. Eine Bewegung. Die Angst war ein Messer, das sich weit unten hineinbohrte und tief in ihn eindrang. Johnny hatte in seinem ganzen Leben noch nicht so viel Angst gehabt nicht an dem Tag, als er aufwachte und sah, dass sein Vater fort war, und nicht dann, wenn seine Mom wegdämmerte und Ken dieses Funkeln im Auge hatte.
Johnny war in Panik.
Erstarrt.
Dann wirbelte er herum und rannte los, am Fluss entlang, den Weg hinunter. Er rannte, bis seine Kehle sich zuschnürte, bis sein Herz sich aus seiner Brust befreien wollte. Er rannte schnell, und er rannte voller Angst. Er rannte, bis das riesige schwarze Monster aus dem Schatten hervortrat und ihn packte.
Und Johnny schrie.
FÜNF
L evi Freemantle trug etwas Kostbares auf der Schulter. Es war eine schwere Kiste, doppelt in schwarzes Plastik eingewickelt und mit silbernem Klebstreifen verschlossen. Wenige Männer hätten sie so weit tragen können, wie Levi es getan hatte, aber Levi war nicht wie andere Männer. Er ignorierte, dass sie wehtat, er spürte sie gar nicht. Er blieb mit den Füßen auf dem Weg und bewegte die Lippen, wenn Worte in seinem Kopf heraufstiegen. Er hörte Gottes Stimme in seinem Kopf, und er folgte dem Fluss, wie seine Momma es ihn gelehrt hatte, als er klein war. Der Fluss war der Fluss und veränderte sich nie, und Levi war den Flusspfad vielleicht schon hundertmal gegangen. Nicht, dass er besonders gut zählen konnte.
Aber hundert war viel.
Er war oft hier gegangen.
Levi sah den weißen Jungen, bevor er ihn hörte. Er kam geradewegs auf ihn zu, rannte den Weg herunter, als sei der Teufel ihm auf den Fersen, hungrig nach weißen Jungen. Der Kopf auf den dürren Schultern war gesenkt, sein Gesicht puterrot, und seine Füße sprangen über Steine und Löcher, während Zweige nach seinem Gesicht schlugen, ohne zu treffen. Der Junge sah sich nicht um, nicht ein einziges Mal — wie ein gehetztes Tier auf der Flucht.
Levi wollte ihn vorbeilassen, doch es gab nichts, wo er sich verstecken konnte. Da war der Fluss, und da waren die Bäume, aber Levi war fast zwei Meter groß und wog an die hundertfünfzig Kilo. Leute mit Pistolen suchten ihn. Polizisten mit glänzendem Metall an ihren Gürteln, Wachleute mit Schlagstöcken und niederträchtigem Lächeln. Also fragte Levi Gott, was er tun sollte, und Gott sagte, er solle den Jungen packen. Tu ihm nicht weh, sagte Gott. Heb ihn nur hoch.
»Wirklich?«, flüsterte Levi, aber Gott antwortete nicht. Levi zuckte die Achseln, trat hinter dem Baum hervor und umschlang den Jungen mit einem
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