Das letzte Kind
konnte, wie verzweifelt er an etwas glauben musste, das mehr Macht hatte als seine eigenen Hände. Jack hatte noch nie einen solchen Verlust, eine solche Angst erfahren. Er hatte noch nie in dem Albtraum gelebt, zu dem Johnnys Leben geworden war. Aber er war nicht dumm.
Johnny musste ihm etwas erzählen.
»Erinnerst du dich an das Buch, das wir im Englischunterricht gelesen haben? Herr der Fliegen? Über diese Jungen auf der verlassenen Insel, die zu Wilden werden, weil keine Erwachsenen da sind, die sie davon abhalten? Sie machen Speere und bemalen sich mit Blut. Sie rennen wie die Eingeborenen durch den Dschungel, gehen auf Wildschweinjagd und trommeln. Weißt du noch?«
»Ja. Und?«
»Gerade waren sie noch normal, und eines Tages galten die Regeln nicht mehr. Sie machten ihre eigenen Regeln, hatten ihren eigenen Glauben.« Er schwieg einen Moment. »Manchmal fühle ich mich wie diese Jungen.«
»Sie haben versucht, sich gegenseitig umzubringen. Sie sind wahnsinnig geworden.«
»Wahnsinnig?«
»Ja.«
Johnny zuckte die Achseln. »Mir gefällt das Buch.«
»Du bist ein Idiot.«
»Kann sein.«
Jack zupfte einen Faden aus seiner Jeans, und sein Blick wanderte über den Beton und die Treppe. »Ich dachte, du kannst deinen Onkel Steve nicht leiden.« Johnny erzählte von der Sache mit dem Jugendamt und Detective Hunt. »Deswegen.«
»Für diesen Cop würde ich nichts Besonderes machen«, sagte Jack.
»Wie meinst du das?«
Jack wedelte mit der Hand. »Sind so Sachen, die ich von meinem Dad höre. Copgeschichten.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel, dass er in deine Mom verknallt ist. Sie hätten ...
du weißt schon.«
»Blödsinn.«
»Mein Dad sagt es.«
»Na, dein Dad ist ein Lügner.«
»Wahrscheinlich.«
Sie schwiegen, und zum ersten Mal machte sich Unbehagen zwischen ihnen breit. »Möchtest du bei mir übernachten?«, fragte Johnny. »Ist bloß Steves Haus, aber du weißt schon —«
»Mein Dad sagt, ich soll mich von dir fernhalten.«
»Warum denn?«
»Herr der Fliegen, Mann. Er glaubt, du bist gefährlich.« Jack lehnte den Kopf an die Wand. Johnny tat es auch. »Gefährlich«, wiederholte Jack. »Gefährlich ist cool.«
»Nicht, wenn wir nicht zusammensein dürfen.«
Wieder schwiegen sie lange. »Deinen Dad hatte ich richtig gern«, sagte Jack. »Bei ihm hatte ich das Gefühl, der Arm ist nicht wichtig.«
»Ist er auch nicht.«
»Ich hasse meine Familie.«
»Nein, das tust du nicht.«
Jack schlang die Arme um die Knie, und seine Fingerknöchel wurden weiß. »Weißt du noch letztes Jahr? Als ich mir den Arm gebrochen hab?«
Der Arm war schwach und brach leicht; Johnny erinnerte sich, dass Jack mindestens dreimal einen Gips getragen hatte. Aber letztes Jahr war es schlimm gewesen: mindestens viermal gebrochen. Er hatte operiert werden müssen — Schrauben und Stifte und anderes Metall. »Das weiß ich noch.«
»Das hat Gerald getan.« Die kleine Hand baumelte an ihrem schmalen Gelenk, und Jacks Stimme kam aus einem tiefen Schacht.«Deswegen hat mein Dad mir das neue Fahrrad geschenkt.«
»Jack —«
»Darum fahr ich nie damit.«
»Scheiße, Mann.«
»Ich hasse meine Familie.«
ACHTUNDZWANZIG
H unt stand im Büro des Chiefs. Flaggen schmückten die Ecken, und an einer Wand hingen Fotos seines Vorgesetzten mit diversen staatlichen Funktionsträgern: mit dem Vizegouverneur, mit einem ehemaligen Senator, mit einem unbedeutenden Schauspieler, der Hunt irgendwie bekannt vorkam. Auf der Kredenz standen Fotos seiner Kinder. Auf dem Schreibtisch lag die Lokalzeitung neben den Zeitungen aus Wilmington, Charlotte und Raleigh. Johnnys Foto war auf allen Titelseiten. Gesichtsbemalung und Federn, Blut und Knochen.
Ein wilder Indianer.
Der Chief füllte seinen Schreibtischsessel aus. Er saß zurückgelehnt da, die Hände auf dem Bauch gefaltet. Der Ärger schnitt tiefe Falten in seine Augenwinkel. Er war müde, und sein ungewaschenes Haar glänzte auf der Stirn. Der County Sheriff, ein schlanker Mann in den Sechzigern mit rissiger Haut auf den Fingerknöcheln und ledrigen Säcken unter den Augen, lehnte an der Wand. Er war seit fast dreißig Jahren Sheriff und für seinen Jähzorn so gefürchtet, wie er für seine Fähigkeiten geachtet war. Er musterte Hunt mit dunklen, undurchdringlichen Augen und sah nicht glücklicher aus als der Chief.
Hunt ließ sich nicht beeindrucken. »Haben Sie eine Ahnung«, fing der Chief an, »wie viele Leute für dieses Department arbeiten? Wie viele Officer,
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