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Das letzte Kind

Das letzte Kind

Titel: Das letzte Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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vervielfachten. »Hab's ja nicht so gemeint.«
    »Ist der Boss da?«, fragte Steve.
    Der Wachmann deutete mit dem Daumen zur Bürotür, ohne Johnny aus den Augen zu lassen. Johnny folgte Steves Blick und sah ein Fenster mit einer weißen, verstaubten Jalousie. Ein Auge spähte zwischen den Lamellen heraus, dann schnappten sie wieder zusammen. »Scheiße«, sagte Steve leise. »Hat er mich gesucht?«
    »Sollte er?«
    Steve zuckte die Achseln. »Gab's was Aufregendes?«
    »Einen Ladendieb. Zwei Alkis.«
    »Randalierende Betrunkene«, erklärte Steve für Johnny. Er tippte ihm auf die Schulter und ging quer durch den Raum. »Komm her«, sagte er, und Johnny folgte ihm an den Monitoren vorbei zu einer Glaswand, die drei Meter hoch und doppelt so breit war. Dahinter lag die Lebensmitteletage. Steve klopfte an das Glas. »Verspiegelt«, sagte er.
    Johnny spähte durch das Fenster. Unter ihm breitete sich alles aus: Schaufenster und Lebensmittelstände, Rolltreppen, Menschen. Der fette Wachmann kam herangeschlendert, breitete die gewölbten Hände aus und atmete tief durch. »So muss Gott sich fühlen.« Johnny hätte fast gelacht über diese absurde Bemerkung, über so viel Kleingeistigkeit.
    Dann sah er Jack.
    Mit rotem Gesicht, gedemütigt, verlegen. Jack.
    Er stand am Rand des Gedränges, ein kleiner, braun gebrannter Junge mit einem verkümmerten Arm und ohne jede Spur von Niedertracht. Er stand da und ließ es über sich ergehen, denn Gegenwehr würde ihm nichts einbringen, und wenn er wegginge, würde das bedeuten, dass ihn die Schmach, mit der er überhäuft wurde, tatsächlich bekümmerte. Seine Peiniger waren Senior-Schüler von der Highschool, schlanke, muskulöse Jugendliche mit selbstbewusstem Grinsen.
    Johnny zog den Kopf zwischen die Schultern, als er die Spucke sah, die hinten an Jacks Hemd herunterlief. Aber sein Zorn flammte auf, als er Jacks Bruder entdeckte, der drei Schritte weit entfernt stand und nicht eingriff. Ein paar Mädchen scharwenzelten um ihn herum, mindestens vier.
    Johnny deutete hinüber. »Siehst du das?«
    Steve beugte sich vor. »Gerald Cross? Ja, ich seh's. So führen sich die Mädels auf, seit er bei Clemson unterschrieben hat. Nächstes Jahr wird er Profi. Kriegt einen Vertrag über zehn Millionen, mindestens.«
    »Den meine ich nicht.«
    »Wen dann?«
    »Darf ich runtergehen ?«
    Steve zuckte die Achseln. »Geh oder bleib. Ich bin nicht dein Daddy.«
    Johnny polterte die Treppe hinunter, durch die Tür zur Sicherheitsabteilung und hinaus ins Getümmel. Es roch nach Pizza und verkohltem Rindfleisch, nach erhitzten Menschen und irgendwo auch nach einer vollen Windel. Er lief auf Jack zu und hörte, wie man seinen Namen flüsterte. Finger richteten sich auf ihn.
    Das ist der Junge.
    Johnny brauchte einen Augenblick, doch dann ging ihm ein Licht auf.
    Die Geschichte hatte sich herumgesprochen.
    Als er über die Lebensmittelebene lief, beobachteten ihn schon ein Dutzend Leute, aber das war ihm egal. Einer der Jugendlichen boxte Jack immer wieder auf den verkrüppelten Arm; er schlug dicht unter die Schulter, dahin, wo der hohle Knochen am wenigsten geschützt war. Jack bemühte sich, es nicht zu zeigen, aber Johnny wusste, dass sein Freund gleich weinen würde.
    Johnny stürmte in die Gruppe hinein und schlug mit aller Kraft zu. Er traf den Jugendlichen auf den Mund, fühlte Bartstoppeln, Zähne und die reife Weichheit einer geplatzten Lippe. Der Junge taumelte nach links, fing sich wieder und riss die Fäuste hoch. Er holte aus, und dann erkannte er Johnny. »Oh, Scheiße«, sagte er.
    Johnny starrte ihn an: verblüffte braune Augen, fleckige Zähne, lange Haare, stachlig von Gel. Der Junge spuckte Blut aus und wich zurück. »Verdammter Irrer.«
    Johnny zitterte vor Wut, zitterte vom Schweigen eines langen Jahres und von all dem, was er unterdrückt hatte, seit er in einem rot befleckten Krankenhauszimmer aufgewacht war. Der Jugendliche hielt das Zittern für Angst und fing an zu grinsen, doch dann schaute er über Johnnys Kopf hinweg in die plötzlich aufmerksame Menge. Er ließ die Hände sinken und versuchte, mit einem Lachen über die Sache hinwegzugehen. »Cool bleiben, Pocahontas.«
    Niemand außer ihm lachte. Johnny war eine Berühmtheit von der düstersten Sorte, ein seltsames, ungezähmtes Kind mit wilden, schwarzen Augen. Er hatte Dinge gesehen, die kein Junge sehen sollte. Er hatte seine Zwillingsschwester verloren, Tiffany Shore gefunden und vielleicht einen Mann

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