Das letzte Kind
anders an. Das Gefühl des Verlusts versetzte seinem Herzen einen Stich, doch er ignorierte es. Als Erstes ging er ins Zimmer seiner Mutter, zog die Nachttischschublade auf und raffte das Bar-geld zusammen, das er darin fand. Ungefähr zweihundert Dollar. Er nahm zwei Zwanziger und legte den Rest wieder zurück. In seinem Zimmer öffnete er seinen Rucksack und stopfte Kleider und eine Wolldecke hinein. Aus seinem Schrank holte er zwei Jacken, eine Jeans- und eine Baumwolljacke. Dann nahm er die Illustrierte Geschichte von Raven County vom Bett. Das Buch klappte auf der Seite auf, die von John Pendleton Merrimon, dem Wundarzt und Abolitionisten, handelte. Er berührte das Bild seines Vorfahren, dessen Namen er trug, und blätterte dann um. Die fette Überschrift auf der nächsten Seite lautete: »Der Mantel der Freiheit: Raven Countys erster freigelassener Sklave.« Es war die Geschichte Isaac Freemantles, und da war eine Landkarte.
Die Karte zeigte den Fluss und einen Pfad.
Der Pfad führte an einen Ort.
Johnny klappte das Buch zu und steckte es in den Rucksack.
Der Revolver kam zuletzt hinein.
Aus der Küche holte er Konserven und Erdnussbutter, eine große Taschenlampe und eine Schachtel Streichhölzer. Er nahm ein Brot vom Regal und zwei Dosen Traubenlimonade aus dem Kühlschrank. Einen Augenblick lang dachte er daran, seiner Mutter einen Zettel zu hinterlassen, aber der Augenblick ging rasch vorbei. Wenn sie wüsste, was er vorhatte, würde sie sich nur noch mehr Sorgen machen. Er ging hinaus und warf Jack die Baumwolljacke zu. »Hier.« Er selbst zog die Jeansjacke an. Jack wurde allmählich nüchtern. Johnny sah es an seinem feuchten, kläglichen Gesicht und an den wachsamen Blicken, die er über die einsame Straße warf. »Du musst nicht mitkommen«, sagte Johnny. »Ich kann das auch allein.«
»Johnny, Mann. Ich weiß doch nicht mal, was du vorhast.«
Johnny schaute in den tiefen Wald hinter dem Haus. Er dachte an den Revolver, der schwer in seinem Rucksack lag. »Ich sag's dir, wenn du nüchtern bist. Wenn du dann immer noch mitkommen willst, kannst du mitkommen.«
»Was machen wir jetzt?«
»Camping.«
Jack sah ihn verständnislos an, und Johnny legte ihm die Hand auf die Schulter. Sein Mund war ein harter Strich, und seine Augen glühten. »Nimm es als Abenteuer.«
ZWEIUNDDREISSIG
H unt stand am Kamin und beobachtete Katherine Merrimon wachsam. Sie saß auf dem Sofa in Steves Wohnzimmer, zitternd und aufgeregt. Alle paar Augenblicke erhob sie sich und schaute aus dem Fenster. Yoakum war in der Küche, Cross ebenfalls. Steve ging auf und ab und warf Hunt furchtsame Blicke zu. Als er mit Katherine reden wollte, schlug sie nach ihm. »Das ist deine Schuld«, sagte sie.
»Der verdammte Bengel.«
Sie schlug ihn noch einmal.
»Ich gehe raus«, sagte Steve. »Ich brauch 'ne Zigarette.«
»Komm ja nicht wieder.« Sie sah ihn nicht einmal an.
»Katherine ...«
Sie schaute hinaus in die Dunkelheit, und Hunt kam herüber.
•Gehen Sie rauchen, Steve. Lassen Sie uns ein paar Minuten allein.«
Steve öffnete die Tür. »Okay. Von mir aus.«
Hunt wartete, bis sich die Tür geschlossen harte. Dann nahm er Katherine beim Arm und führte sie zum Sofa. »Wir werden ihn finden.«
»Das wissen Sie nicht.«
»Ich werde tun, was ich kann, um Ihren Sohn wieder nach Hause zu bringen. Das verspreche ich Ihnen.« Es war ein leeres Versprechen, und das wussten sie beide. Katherine verschränkte die Hände im Schoß. »Nichts ist mir im Moment wichtiger«, sagte Hunt. »Glauben Sie mir das?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich versprech's Ihnen, Katherine. Ich schwöre.«
Sie nickte und bog die Schultern nach vorn. Ihre Hände waren zu einem kleinen, sauberen Päckchen gefaltet. »Glauben Sie, jemand hat ihn entführt?«
Hunt verstand sie kaum, weil sie so leise sprach. »Nein«, sagte er. »Auf keinen Fall.«
»Vielleicht hat sich jemand überlegt, dass eine Drohung nicht genügt.«
Hunt drehte sich zu ihr um. »Es gab keine Einbruchsspuren und keine Anzeichen für einen Kampf. Steves Truck ist weg, Johnny kann fahren, und er kam an den Autoschlüssel.«
»Ich muss ihn wiederhaben. Verstehen Sie?«
»Ja.«
»Ich brauche meinen Sohn zu Hause.«
Sie starrte aus dem Fenster. Yoakum erschien in der Küchentür.
»Clyde?« Er winkte ihn mit dem Finger heran.
Hunt kam in die Küche. »Was gibt's?«
Yoakum blieb vor dem kleinen Küchentisch stehen. »Sehen Sie hier etwas, das Sie stört?« Hunt
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