Das letzte Kind
betrachtete den Tisch. Darauf lagen ein paar Zeitschriften und Briefe, die Zeitung vom vergangenen Tag und ein aufgeschlagenes Telefonbuch. Er wollte den Kopf schütteln, doch Yoakum sagte: »Telefonbuch.«
Es dauerte eine Sekunde, aber dann sah Hunt, was er meinte. Levi Freemantle, 713 Huron Street.
»Oh, Scheiße.«
»Weshalb interessiert er sich für Levi Freemantle?«
»Er glaubt, Freemantle weiß, wo Alyssa ist.«
»Wie kommt er auf die Idee?«
»Er glaubt, David Wilson könnte es ihm gesagt haben, bevor er starb.« Hunt klappte das Telefonbuch zu. »Das ist meine Schuld.«
»Kein Mensch konnte ahnen, dass er so was tun würde.«
»Ich schon.« Hunt rieb sich das Gesicht. »Der Junge ist zu allem fähig. Es war dumm von mir zu glauben, er würde einfach darüber hinweggehen.«
»Ich kann in acht Minuten drüben sein.«
»Nein. Der Junge vertraut mir mehr oder weniger. Es ist besser, wenn ich fahre.«
»Na, dann sollten Sie sich beeilen.«
Sie gingen zurück ins Wohnzimmer, aber bevor sie den Teppich überquert hatten, platzte Steve herein. Er deutete mir dem Zeigefinger auf Katherine und ballte dann die Faust. Seine Lippen waren angespannt, und er war rot im Gesicht. Seine Faust machte pumpende Bewegungen, als halte er seine Wut nur mühsam im Zaum.
»Was ist los?«, fragte Hunt.
Steve sah ihn an. Seine Worte klangen abgehackt, und er zeigte zur Straße. »Dieser kleine Scheißer hat auch meinen Revolver geklaut.«
Zehn Minuten später hatte Hunt jedes Zimmer in Freemantles Haus durchsucht. Vom Wohnzimmer aus rief er Yoakum an. »Ich hab ihn verpasst.«
»Sieht es aus, als ob er da gewesen ist?«
Hunt trat hinaus auf Freemantles Veranda und befingerte das abgerissene gelbe Absperrband. Entlang der Straße heulten die Hunde. »Das Flatterband ist zerrissen. Die Tür stand offen.«
»Sollten wir die Fahndung nach dem Truck veranlassen?«
Hunt überlegte. »Was ist, wenn Johnny recht hatte? Was ist, wenn der sechste Mann ein Cop war?«
»Ich kann's mir nicht vorstellen.«
»Aber wenn? Was ist, wenn wir nach ihm fahnden und der falsche Cop ihn findet?«
»Sie meinen, wir sollten den Deckel draufhalten?«
»Ich weiß es nicht. Solche Gedanken gehen mir auf zwanzig verschiedene Arten gegen den Strich.«
»Mir auch. Moment mal. Was?« Yoakum legte eine Hand auf die Sprechmuschel. Hunt hörte gedämpfte Stimmen, und dann war Yoakum wieder da. »Oh, Scheiße.«
»Was ist?«
»Cross sagt, er hat es schon gemeldet.«
»Dazu hat ihn niemand autorisiert.«
»Er sagt, bei einem weggelaufenen Jungen in einem geklauten Truck mit einer geklauten Waffe ist der Fall völlig klar. Ehrlich gesagt, ich kann ihm nicht widersprechen, zumal...« Yoakum machte eine Pause, und Hunt sah ihn vor sich, wie er sich abwandte und von Katherine wegging. »Zumal was?« Eine Tür schloss sich, und Yoakum antwortete im Flüsterton. »Zumal da er auf der Suche nach einem eiskalten Killer ist.«
Johnny musste zwei Straßen weit fahren, bis er den Eingang zu der alten Tabakfarm gefunden hatte. Das Tor war unverschlossen, der Feldweg überwuchert von Unkraut und niedrigem Dornengestrüpp. Jack schloss das Tor hinter ihm. Er war noch nie in der alten Scheune gewesen. »Wo fahren wir hin?«
»Wirst du schon sehen.« Das Scheinwerferlicht bohrte sich in die Dunkelheit. Fedrige Kiefernzweige langten durch die Fenster herein und wechselten die Farbe von Schwarz zu Grün. Harz glitzerte an knotigen Baumstämmen, und die Funken erloschen, als sie vorbeifuhren.
Sie holperten durch Furchen und tiefe Rinnen, die der Frühlings-regen hinterlassen hatte. Als sie aus dem Wald auf die verlassenen Felder kamen, tat sich der Himmel über ihnen auf. Hoch oben funkelten einsame Sterne, und hinter Wolkenschleiern leuchtete schemenhaft der Mond. »Das war mal eine Plantage«, sagte Johnny. »Später nur ein paar Farmen.« Der Feldweg knickte nach rechts ab, wurde wieder gerade und teilte sich dann. Johnny nahm die linke Gabelung. »Man kann noch sehen, wo das große Haus abgebrannt ist.« Er deutete mit dem Kopf hinüber. »Da drüben. Ein Haufen Steine vom Kamin. Und der alte Brunnenschacht.«
»Ja?«
»Ist jetzt alles überwuchert. Ich hab's vor sechs Monaten gefunden.«
Vor ihnen ragte die Scheune auf, eine Wand aus grau verwitterten Balken auf einem Fundament aus behauenem Granit. Wolfsmilch wuchs dort rosa und grün, und Efeu griff mit seinen Fingern an der hinteren Ecke hinauf. Schwarze Ritzen klafften an den Stellen, wo die
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